Die Kunst sollte in Salzburg das Fest sein, nicht die Selbstdarstellung: Christoph Franken als Mammon im aktuellen "Jedermann".
Foto: APA / BARBARA GINDL

Salzburg ist anders. Während nahezu der gesamte Kulturbetrieb durch die Covid-19-Pandemie über Monate zum Erliegen gekommen ist und die großen Festivals von Aix-en-Provence bis Bayreuth und Edinburgh ihr Programm frühzeitig absagt haben, zeigen die Salzburger Festspiele ab heute ein stark verschlanktes Programm. Zwei Opern, zweimal Schauspiel, zuzüglich Jedermann, ohne den in Salzburg keine Zeitrechnung möglich ist, und eine dann doch recht breit aufgestellte Konzertreihe verhelfen den darbenden ortsansässigen Fremdenverkehrsbetrieben zu einer Steigerung der Auslastung von derzeit vierzig auf angestrebte fünfzig Prozent.

Die Festspiele haben seit ihrer Gründung – zumindest als bloßes Ereignis – selbst den Untergang der Republik und die Unterwerfung unter das ideologische Konzept der neuen Machthaber ab 1938 überdauert, 1943 auch den Verlust ihres Namens. Lediglich 1944 wurde auf Geheiß von NS-Propagandaminister Goebbels bis auf ein Konzert und eine Richard-Strauss-Probe alles abgesagt. Was die Nazis nicht erreichten, sollte das Virus nicht verursachen können. Das "Durchziehen" der Festspiele geriet fast schon zu einer Art kulturnationaler Selbstbehauptung. Im Vorfeld wurde das über weite Strecken in einem inbrünstigen Ton goutiert, den man sonst nur vom Abfeiern sportlicher Höchstleistungen kennt.

Lehrstück mit Sachzwängen

Möglich wurde das alles durch ein ausgeklügeltes Hygienekonzept, das jeden Weg, jeden Zugang, jeden Kontakt der am Prozess der Aufführungen Beteiligten registriert und reglementiert. Das Ganze ist ein Lehrstück zum Begriff der Gouvernementalität, zu einer Praxis der Steuerung komplexer sozialer Prozesse, die weniger auf äußeren Zwang als auf die Einsicht der Beherrschten setzt – zum Ausblick auf eine schöne neue Welt, in der sich Zwangsmittel in technische Gegebenheiten und nicht sinnvoll zu hinterfragende Sachzwänge übersetzen: schachbrettartige Sitzmuster, kein Pausenplausch, keine Bussis, kein Spalier der Menge für bedeutende und weniger bedeutende Persönlichkeiten, keine Schnittchen im Sponsorenbereich, keine Anbahnung kommender Geschäfte auf beiläufigen Zuruf.

Ohne "Jedermann" gehts nicht: Tobias Moretti (Jedermann) und Caroline Peters (Buhlschaft) bei den Proben.
Foto: APA / BARBARA GINDL

Die "Spiellust des bayrisch-österreichischen Stammes", von der die Gründungstexte so trefflich schwärmen, sublimiert nicht mehr im Prozess der Kunst, sie wird sanitätspolizeilich beamtshandelt. Wo sonst barocke Blüten treiben, wird man sich heuer in nahezu protestantische Schlichtheit fügen. Angesichts ringsherum wieder ansteigender Infektionszahlen bleibt dennoch Unbehagen. Bei aller gegebenen Sorgfalt können die Veranstalter nicht vorausahnen, wo und wie das p. t. Publikum sich nach den Aufführungen versammelt. Der wiederholte und ungewohnte Verweis, dass für nahezu alle Daten noch Karten verfügbar sind, lässt zudem die betriebswirtschaftlichen Risiken der heurigen Festspielausgabe erahnen.

Sorgfalt als Kür

Mit der heutigen Elektra von Richard Strauss und der neu eingefügten Così fan tutte-Produktion gruppiert sich das Programm um Salzburger Kernkompetenzen. Peter Handke wird die barocke Gegenwelt an der Salzach als Kontrast zu den literaturpolitischen Tagesauseinandersetzungen, in die er nicht erst seit dem Nobelpreis, danach aber vermehrt geraten ist, zu schätzen wissen. Kontaktflächen zum Hier und Jetzt sind eher rar. Die Programmierung gehorcht der Not und dem Ernst der Lage, aber auch einer Tendenz zur Selbstabschließung.

Auf dem Spiel steht damit aber auch das Alleinstellungsmerkmal des Festivals als Ort, der den Luxus erlaubt, in ungewohnten personellen und inhaltlichen Konstellationen ungewohnte Wege zu gehen, einen Luxus, in der Sorgfalt künstlerische Arbeit zu ermöglichen, den der Repertoirebetrieb übers Jahr nur schwer bieten kann. Symbolisches Kapital in der Kunst akkumuliert sich nicht allein durch die Anhäufung von Marktwerten. In Salzburg hat seine Notierung immer mit dem langfristig zugelegt, was das Festival über die tourismuswirtschaftlichen Pflichtaufgaben hinaus geleistet hat. Das hat nach der Ära Karajan niemand so gut verstanden wie Gerard Mortier in den Jahren 1991 bis 2001. Mit der Öffnung zur Gegenwart, zur Neuen Musik, zu neuen Theatersprachen hat Mortier dem Prägestempel der Repräsentation immer wieder unbeschriebene Blätter zugeführt und so den Rundlauf der Maschinerie stabilisiert. Der heutige Intendant Markus Hinterhäuser hatte damals schon wesentliche Elemente eines Neuen Salzburg kuratorisch mitverantwortet.

Eröffnungspremiere: Die Oper "Elektra" von Richard Strauss mit (v.l.) Aušrinė Stundytė (Elektra) und Asmik Grigorian (Chrysothemis).
Foto: APA / BARBARA GINDL

Wenig Selbstreflexion

In der Gegenwart strahlt über Salzburg eine Art kosmische Harmonie, die in der dichtenden Zueignung dem Katalog der Ausstellung "100 Jahre Salzburger Festspiele" des Salzburg Museums im psalmodierenden Kehrvers "100 Jahre Salzburger Festspiele zu denken, bedeutet …" in frommer Einfalt und hoffentlich nicht ohne einen Schuss postmoderner Ironie vergangene Erhabenheiten beschwört. Die Vergangenheit wird im Umfeld des Festivals zwar getreulich erzählt, aber in seiner Praxis kaum reflektiert.

Viele Fragen bleiben offen. Was der Begriff der Kulturnation alles ausschließt von dem, was in und für Österreich wichtig ist. Wie aus ihm der ideologische Gegenentwurf zur westlichen Demokratie wurde. Wie Vertreter der Moderne an der Schwelle ihrer Durchsetzung zu Reaktionären wurden, nur weil sie die Autonomie der Kunst im gesellschaftlichen Fortschritt bedroht sahen. Warum auch reaktionäres Denken, das nicht unmittelbar in den Nationalsozialismus führte, trotzdem fragwürdig bleibt. Es gibt viel zu tun für Festspiele in den kommenden Jahren.

Keine Festspiele ohne eine Oper von Mozart: Am Sonntag geht "Così fan tutte" über die Bühne.
Foto: APA / BARBARA GINDL

Wo bleibt der Protest?

Vor allzu viel Eigentlichkeit wünscht man sich direkt die Konfliktkultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts zurück, als um Inszenierungen vorab gestritten wurde, Bundespräsidenten sich die Blöße gaben, aktuelle Kunst für den vorgeblich respektlosen Umgang mit dem nationalen Tafelsilber zu rüffeln. 2000 sorgte der Schweizer Jakob Kellenberger, damals Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, als Festredner für Momente von Irritation, indem er das große Welttheater, das die Welt im Gleichnis zu deuten behauptet, mit der Arbeit an ihrem aktuellen Zustand konfrontierte.

2009 protestierte die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz gegen die Festspiele, weil ein Sponsor bei Auflauf der Reichen und Schönen seine Arbeiter zu Hause kurzarbeiten ließ. Heute sind die Künstler selbst in Kurzarbeit. Proteste bleiben aus.

Aber kann man überhaupt gegen Salzburg protestieren? Wahrscheinlich nur, indem man für etwas eintritt, für den Teil des Festivals, der einen utopischen Kern birgt – den Luxus der Sublimation, die Freiheit zur Sorgfalt, die jede künstlerische Praxis verdient. Die Kunst selbst soll das Fest sein, nicht ihre Festveranstaltung. (Uwe Mattheiß, 1.8.2020)