Feminismus gegenüber einer Burschenschaft: die Frauen der Rip Off Crew 2019 beim Calle-Libre-Festival.
Foto: Jolly Schwarz

Jeder kennt Banksy und Obey, aber das war’s dann auch." So lapidar fasst Jakob Kattner das gesellschaftliche Allgemeinwissen über Street-Art zusammen. Der hauptberufliche Kreativdirektor von Warda Network dissertierte über urbane Kunst in Lateinamerika. Das war der Startschuss zu seinem Calle-Libre-Festival, Wiens einzigem Street-Art-Festival, das genau diese urbane Kunst hier auch heimisch machen sollte. 2014 gründete er es im Ehrenamt – nicht zuletzt, damit die Leute nicht nur Banksy kennen.

Wobei Street-Art-Festival gar nicht der ideale Begriff ist, um Calle Libre zu beschreiben. Die großen, oft sehr bunten und fröhlichen Hauswände, die im Rahmen des Festivals legal entstehen und das Stadtbild nachhaltig bereichern, sind sogenannte Murals, "große, figürliche Darstellungen, die für Betrachter leichter zugänglich sind, da sie oft einfacher zu entschlüsseln sind als die klassischen Graffitischriftzüge", wie Stefan Wogrin, Graffitikünstler und Kunsthistoriker, der mit seiner Plattform spraycity.at die Szene in Österreich beobachtet und dokumentiert, erklärt.

Bunt und fröhlich: Die großen Murals entstehen legal und sollen das Stadtbild bereichern.
Foto: Jolly Schwarz

Raus aus der Schmuddelecke

Murals lassen sofort an den mexikanischen Muralismus denken, der in den 1920ern der illiteraten Bevölkerung Mexikos politische Ideen mittels Wandbemalungen vermitteln sollte; Mexiko wäre auch heuer "Fokusland" bei Calle Libre gewesen, wäre nicht Corona dazwischengekommen. Wenn Kattner über sein Festival spricht, bevorzugt er den Begriff der urbanen Ästhetik, nicht den der Street-Art. Neben seinen Bemühungen, einen interkulturellen Dialog zu starten, sieht er das Festival auch in einer Vermittlerrolle. "Wir haben es über die Jahre geschafft, Street-Art aus dieser Schmuddelecke, von der Vandalismusassoziation wegzuholen."

Dass Calle Libre die Wiener Bobos oft mehr freut als die klassische Graffiti- und Sprayerszene, ist ihm freilich bewusst. "Seitens der Graffitiszene ist sicherlich ein Gegenwind zu spüren. Dutzende Bilder wurden gecrosst, also übermalt."

Freilich tut sich eine Szene mit Wurzeln in der Gegenkultur des New Yorks der 60er und 70er damit schwer, wenn die besonders sichtbaren Wände der Stadt nicht zuletzt zur Grätzelverschönerung dienen. Ihre Methoden waren schließlich das illegale Besprühen von Zügen, das unerwünschte Einnehmen von Raum.

Mehr Freude für die Wiener Bobos, als für die Sprayerszene.
Foto: Jolly Schwarz

Was mit ähnlichen Mitteln entsteht, könnte auch von der Bevölkerung nicht diametraler aufgefasst werden. Während die großen, bunten Flächen mittlerweile den Status einer willkommenen Kunst im öffentlichen Raum haben, stellen illegale Tags – man denke an Puber – oft ein großes Ärgernis für Hausbesitzer und Anrainer dar.

Christine Koblitz, die maßgeblich an der Konzeption der Street-Art-Ausstellung Takeover im Wien-Museum beteiligt war, betont, dass sich das schwer trennen lässt: "Die schöne Seite von Street-Art gäbe es ohne die rotzige Seite des Vandalismus nicht. Auch wenn man nicht alles gut finden muss, was da passiert." Die Takeover-Aktion des Wien-Museums, also der lokalen Street-Art- und Graffiti-Szene die damals im Umbau befindliche Institution zu überlassen, entpuppte sich nach anfänglicher Skepsis auf allen Seiten mit zu einem unerwartet großen Erfolg – 55.000 Besucher in 36 Tagen.

Beim "Takeover" im Wien-Museum durften sich Besucher verewigen.
Foto: Wien-Museum / Christoph Schlessmann

Legale Wiener Wände

Zwar gilt Wien nach wie vor international nicht gerade als Street-Art-Mekka, doch hat die Stadt mit ihren rund 20 legalen Flächen ein Alleinstellungsmerkmal, "da die Flächen unter der Schirmherrschaft der Stadt zur Verfügung gestellt werden. Legale Graffitiflächen existieren zwar in den meisten europäischen Großstädten, jedoch werden sie oft von unterschiedlichen Initiativen oder Privatpersonen organisiert", so Wogrin. 1994 wurde bereits unter Helmut Zilk in seinem letzten Jahr als Bürgermeister eine Fläche neben dem Flex, die schon in den 80ern von der Szene genutzt wurde, offiziell freigegeben. 2005 kam mit dem Projekt Wienerwand ein Leitsystem, das die Flächen mit einer Reliefplatte als offizielle Graffitiwände der Stadt kennzeichnet. "Am Donaukanal ist eine der größten Outdoorgalerien Europas gewachsen, sicherlich ein Markenzeichen für Wien", ergänzt Koblitz.

Sprayen in sozialen Medien

In der Wiener Szene überwiege nach wie vor das klassische Graffitiwriting, meint Wogrin, wobei er beobachtet, dass immer mehr Quereinsteiger, zum Beispiel Studierende von Kunst-Unis, ihre Werke großflächig im öffentlichen Raum platzieren. "Gerade Social Media spielt dabei eine große Rolle. Während sich früher die Graffitwriter ihren Fame noch durch qualitatives und quantitatives Schaffen erarbeiten mussten, können nun viele Künstler durch soziale Netzwerke schneller Bekanntheit erlangen."

"Die schöne Seite von Street-Art gäbe es nicht ohne die rotzige Seite des Vandalismus", sagt Christine Koblitz vom Wien-Museum.
Foto: Wien-Museum / Christoph Schlessmann

Dominiert wird die Szene nach wie vor von Männern, wobei auch hier in den letzten Jahren etwas Bewegung reingekommen ist. Dabei sollen die Macherinnen hinter der Street-Art-Galerie Improper Walls nicht unerwähnt bleiben, die bleibenden Eindruck in ihrem Grätzel im 15. Bezirk hinterlassen haben. Bei Calle Libre setzte man im Vorjahr ein Statement, indem die feministische Rip Off Crew eine Wand gegenüber einer Burschenschaft zugesprochen bekam. Dieses Jahr steht bei dem Festival mit sieben Wänden, die sich Kattner mit Hausbesitzern und nach einem behördlichen Spießrutenlauf sichern konnte, die lokale Szene im Vordergrund – dem Künstler Fresh Max, der bereits mit der Band Bilderbuch zusammenarbeitete, kann man zum Beispiel im dritten Bezirk beim Malen zusehen.

Auch wenn es in den unterschiedlichen Szenen immer wieder zu Reibungen kommt, gibt es doch eine große Gemeinsamkeit: Alle wollen sich den öffentlichen Raum (zurück)holen – ästhetisch, räudig, groß, klein, legal oder nicht. (Amira Ben Saoud, 31.7..2020)