Contact-Tracing im Sommer kann im Herbst helfen, sagt Judith Aberle.

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Die hier gestellte Frage beantwortet Judith Aberle, ohne zu zögern: "Ja, angesichts der herrschenden Pandemie sind die Menschen in Österreich zu wenig vorsichtig", sagt die Virologin an der Med-Uni Wien. Dann ergänzt sie: "Aus virologischer Sicht." Denn dass es, oft aus höchstpersönlichen Gründen, andere Betrachtungsweisen gibt, sei klar: "Dass sich ältere Menschen nicht auf unabsehbare Zeit von ihren Enkeln isolieren möchten, finde ich verständlich", sagt Aberle.

Risikoreiches Verhalten breiter Bevölkerungsschichten hingegen sei problematisch. Nach den Anfangserfolgen gegen die Infektionsausbreitung durch den Lockdown hätten viele Menschen in Österreich gedacht, das Virus sei hiermit weg. "Aber das ist nicht der Fall."

Zu viele hätten damit aufgehört, Abstand voneinander zu halten, mit – leider – berechenbaren Folgen: "Sobald die Schutzmaßnahmen zurückgenommen werden, ziehen die Fälle wieder an", benennt Aberle ein Ursache-Wirkung-Verhältnis, das den Alltag in Österreich bis auf Weiteres schwer beeinflussen wird.

Dennoch: "Die Epidemie ist derzeit gut im Griff", meint die Wissenschafterin, die sich am Zentrum für Virologie mit Probenauswertung sowie Grundlagenforschung zum Coronavirus beschäftigt: "Es ist uns in Österreich bisher gelungen, die Fallzahlen auf einem relativ niedrigen Niveau zu halten."

"Erhöhte Virusgrundaktivität"

Das, so Aberle, gelte trotz der derzeitigen Zunahme aktiver Fälle, von bundesweit täglich weniger als 50 im Juni auf durchschnittlich 120 in den vergangenen zwei Wochen. "In Österreich gibt es derzeit keine zweite Welle. Was wir vielmehr feststellen, ist eine erhöhte Grundaktivität des Virus", sagt sie.

Was ist der Unterschied? Die Lage sei kontrollierbar, erläutert die Expertin: "Die Infektionsketten sind derzeit rekonstruierbar, das Contact-Tracing funktioniert." Grund zur Sorge bestehe dann, "wenn die Fallzahlen so weit ansteigen, dass die Gesundheitsbehörden die Kontakte der Infizierten nicht mehr feststellen können und sich das Virus ungehindert verbreitet. Dann kann es wieder zu einem exponentiellen Anstieg kommen. Das ist dann die zweite Welle."

Tatsächlich ist das Contact-Tracing in Österreicheine epidemiologische Kernstrategie, um das pandemische Geschehen in Schach zu halten. Es ist der Beitrag der Behörden zur Bewältigung einer Situation, die jederzeit aus dem Ruder geraten kann: penibles Nachverfolgen der Kontakte infizierter Personen – oft mit technisch veralteten Mitteln wie Fax statt E-Mail. Ziel ist, die Kontaktpersonen über ihr Erkrankungsrisiko sowie über die von ihnen für andere unter Umständen ausgehende Gefahr zu informieren – und sie gegebenenfalls in Quarantäne zu setzen.

Cluster finden

"Wir müssen jetzt, im Sommer, so viele Infektionsherde und Cluster wie möglich erkennen und isolieren. So können wir, mit Blick auf den Herbst, die Virusaktivität niedrig halten", sagt Aberle.

Die kalte Jahreszeit, wenn die Menschen sich wieder in geschlossenen Räumen mit höherem Infektionsrisiko aufhalten werden, sieht sie als "große Herausforderung".

Was aber macht sie und andere Experten sicher, dass die österreichische Anti-Corona-Strategie funktioniert? Nichts – wenn man von den bis dato damit gemachten guten Erfahrungen absieht. Zwar, so Aberle, gehe mit den nun wieder strengeren Masken- und Einreiseregelungen die Hoffnungen einher, "bei dem derzeitigen relativ niedrigen Infektionsniveau zu bleiben und damit in den Herbst zu gehen. Aber es ist keineswegs gesagt, dass sich die Fallzahlen in den kommenden drei, vier Wochen so entwickeln."

Wichtig sei auf alle Fälle die Mitarbeit der Bevölkerung. Wer Masken trage, sich häufig die Hände wasche und "vor allem: Abstand hält", handle "nicht nur eigen-, sondern auch fremdverantwortlich. Dann benimmt man sich solidarisch", sagt die Virologin. (Irene Brickner, 1.8.2020)