Im Gastkommentar meldet sich der Präsident des Bunds sozialdemokratischer Akademikerinnen und Akademiker Andreas Mailath-Pokorny mit einer Replik auf Nils Heisterhagen und Roland Fürst und ihr "altes Denken" zu Wort.

Neuer linker Realismus" nennt sich das Stichwort, mit dem seit einiger Zeit versucht wird, einer allzu kopflastigen Sozialdemokratie zu begegnen. So auch kürzlich der Publizist und Ex-SPD-Funktionär Nils Heisterhagen und der SPÖ-Burgenland-Funktionär und Ex-Publizist Roland Fürst im STANDARD (siehe "Die Sozialdemokratie im elektoralen Niemandsland"). Die Frage drängt sich auf: Warum?

Unnötige Polarisierung

Da ist die Rede von "Social-Media-Bekenntnis-Linken", die in den "Hauptstädten" ihren "Bobo-Lifestyle" und ihre "Haltung" pflegten, die "abgehängte Schichten" hochnäsig behandelten und zu "rein theoretischen Akademikerveranstaltungen" neigten. Anders der neue sozialdemokratische Realismus mancher deutscher Bundesländer und des Burgenlandes, der erstens erfolgreich sei und sich zweitens nicht lange mit Analysen aufhalte, sondern handle – sozialpolitisch links, gesellschaftspolitisch rechts: gerechter Mindestlohn und rigide Einwanderungspolitik.

Einher geht das Ganze mit deutlichem Antiintellektualismus, mit der Gleichsetzung von politischer Haltung mit Politikersatz und Symbolpolitik, von der die Menschen nichts hätten. Hier wird Denken gegen Handeln ausgespielt, unnötig polarisiert.

Bild nicht mehr verfügbar.

Die rote Nelke ist das Symbol der Sozialdemokratie. Heute steht sie, sagen Kritiker, im "elektoralen Niemandsland". Dabei gäbe es den Nährboden für erfolgreiche Politik.
Foto: Getty Images

Sozialdemokratischer Nährboden

Zunehmende Vermögensungleichheit, ungleich verteilte Lebenschancen, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die Ausbeutung natürlicher Ressourcen wären Nährboden sozialdemokratischer Politik und ihrer Erfolge. Dort, wo Sozialdemokratie nachhaltig, flächendeckend und dauerhaft erfolgreich war und ist, hat sie nicht polarisiert, sondern zusammengeführt: Kopf- und Handarbeiter, Kapital und Arbeit, Einheimische und Migrantinnen, urbane und ländliche Bevölkerung, Alte und Junge. Alle unter der theoretischen Analyse, dass Ungleichheit und Ausbeutung von Menschen gemacht und von klar definierten Interessen vertreten werden und dass Solidarität und Gemeinwohl nur durch gemeinsames politisches Handeln erreicht und erhalten werden. Und mit dem bewusst aufklärerischen Ansatz, dass es immer wieder um den Aufbruch des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit geht.

Das geht weder ohne Denken noch ohne Handeln. Was soll also die Diffamierung des Ersteren? Wann, wenn nicht seit der Corona-Pandemie, sollte uns die Bedeutung von Analyse und Wissenschaft, von öffentlichem Austausch und Diskurs nachhaltig bewusst geworden sein?

Bilder von urbanen Bobos zu zeichnen, die lieber diskutieren, als zu handeln, zeugt von Kurzsichtigkeit und Biedersinn, mehr noch: von Vertrauen auf eine Politik der Gefühle mehr als auf faktenbasierte Politik. Auch Donald Trump empfiehlt gegen Covid-19 lieber, Bleiche zu nehmen, als auf gut ausgebildete Epidemiologen zu vertrauen. Klimawandel? Auch so eine Erfindung dieser schrecklichen Wissenschafterinnen und Wissenschafter? Schlechte Umfragewerte? Waren wohl auch diese Gebildeten schuld.

Moralische Maßstäbe helfen

Der Wunsch, dass Politik wieder "vom alten Schlag" sein soll, ist manchmal emotional nachvollziehbar. Die Erinnerung ist ja so eine Art Wunderdroge, die nur allzu gerne selektiert. Ich präferiere Konzepte von heute für heute, eine Auseinandersetzung mit den aktuellen Bedürfnissen anhand aktueller Forschung und eines aktuellen Diskurses. Diskurs bedeutet nämlich, miteinander zu reden und sich argumentativ auszutauschen. Die Behauptung, dass es früher besser war, ist bloß eine solche.

Lasst uns also über Gerechtigkeit und Solidarität reden! Aber niemandem soll vorgeschrieben werden, ob er/sie das in sozialen Medien macht oder sonst wo. Auch ich finde es anregend, wenn Menschen sich in sozialen Medien über Politik austauschen und wenn sie dabei moralische Maßstäbe an sich und die Welt anlegen – das hilft ungemein beim Zusammenleben. In diesem Jahrtausend muss man/frau auf allen Kanälen präsent sein, man nennt das Offenheit, Neugier und Toleranz gegenüber anderen Gedanken, Ideen und Identitäten, was für mich immer einer der großen Vorzüge der Sozialdemokratie war. Also nicht: Offenheit gegen Sicherheit, nicht: urbaner gegen ländlichen Raum, nicht: Intellekt gegen Handlung, nicht: Inländer gegen Ausländer, und auch nicht: Kopf gegen Bauch, sondern jeweils: sowohl als auch!

Partizipativ, nicht patriarchal

Und schließlich: Eine komplexe, globale Gesellschaft braucht ebensolche Antworten. Übernational, wissenschaftlich fundiert, diskursiv abgesichert und partizipativ erarbeitet. Das können kleinräumige, traditionell organisierte und meistens auch patriarchale Gesellschaften nicht leisten: Antworten zu geben, die zum Aufbrechen der eklatantesten Ungerechtigkeiten führen, nämlich jener der Herkunft und des Geschlechts.

Zukunftsfähige Gesellschaften werden das also nicht mit alten – männlichen und exkludierenden – Rezepten lösen. Sondern mit gemeinschaftlich entwickelten Perspektiven, die je und je mit den Beteiligten auf allen Kanälen diskutiert und erarbeitet werden.

Dieser "neue linke Realismus" ist altes Denken. Gefragt sind neue Visionen. Und eine Parteiführung, die sich dazu anregend und animierend äußert. (Andreas Mailath-Pokorny, 2.8.2020)