Am 6. August 1945 warf ein US-Bomber eine Atombombe über Hiroshima ab.

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In Hiroshima markiert bloß eine unscheinbare Gedenktafel das Hypozentrum: Über dieser Stelle, in 580 Meter Höhe, zündete am 6. August 1945 die erste im Krieg eingesetzte Atombombe. Zwei Kilometer weiter lagern in der Forschungsstiftung für Strahlenwirkung über eine Million Blut-, Plasma- und Urinproben von 20.000 überlebenden Explosionsopfern, den Hibakusha. Die Zahl der Teilnehmer an dieser Langzeituntersuchung ist nunmehr auf 3000 geschrumpft. Viele erkrankten an den Folgen der Verstrahlung, vor allem an Krebs, aber auch an Infarkten und Depressionen.

"Die Waffe von 1945 wirkt jetzt schon seit 75 Jahren", meint der Arzt Osamu Saito aus Hiroshima, der viele Strahlenopfer betreute. "Die Überlebenden tragen diese Folgen in ihrem Körper und ihrer Seele."

Parallelen mit Fukushima

In Futaba, wenige Kilometer vom AKW Fukushima Daiichi, hebt ein Kran schwarze Plastiksäcke auf das Förderband einer Aufbereitungsanlage. Sie enthalten kontaminierte Erde, nach dem Reaktorunfall abgetragen in der damaligen Sperrzone. Strahlt die gesiebte Erde nur wenig, will der Staat sie überall in Japan für den Anbau von Pflanzen für Biomassekraftwerke und bei öffentlichen Bauvorhaben verwenden.

Doch tausende Bürger kritisieren das: "Die Strahlung wird über das ganze Land verteilt." Im März 2011 hatten Wasserstoffexplosionen in den Reaktoren 168-mal so viel strahlendes Cäsium wie eine Atombombe der Hiroshima-Stärke freigesetzt und 1100 Quadratkilometer unbewohnbar gemacht. Dadurch verloren 120.000 Menschen ihre Heimat.

Ausgrenzung, Mobbing

Die Atomkatastrophe hat das alte Strahlungstrauma aufgefrischt, eine neue Gruppe von Hibakusha entstand. Wieder werden Japaner wegen ihrer Verstrahlung ausgegrenzt, in der Schule gemobbt, finden keine Arbeit und keine Partner. Die evakuierten AKW-Anwohner stünden unter dem "Bann der Strahlendosis", meint der Arzt Saito, der in Fukushima arbeitet. Zwar ließen sich bei ihnen bisher keine eindeutigen Gesundheitsschäden feststellen, "aber ihre emotionale Verunsicherung ist so stark, dass sie das Risiko der erhaltenen Strahlendosis nicht nüchtern betrachten können".

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Die Zerstörung durch die Bombe in Hiroshima war verheerend.
Foto: Reuters/Hiroshima Peace Memorial Museum

Eine weitere Parallele sehen die Hibakusha im hartherzigen Umgang der Behörden. "Beim Atomunfall und bei den Atombomben haben wir der Regierung gesagt, sie soll die Strahlenfolgen wissenschaftlich untersuchen, aber sie hat diese Aufgaben an die lokalen Behörden delegiert und informiert darüber nicht", sagt Terumi Tanaka, der die Nagasaki-Bombe als 13-Jähriger überlebte. "Also wissen wir jetzt nicht, was das radioaktive Material in unseren Körpern macht", erklärt der Ex-Generalsekretär einer Hibakusha-Organisation.

Kaum Chancen vor Gericht

Der Staat anerkannte erst 1957 die Existenz der Hibakusha. Bei den Untersuchungen fühlten sich viele Opfer wie "Versuchskaninchen". Kein Regierungschef erhob jemals die Stimme gegen ihre Diskriminierung. Zwar erhalten sie eine kleine Rente von heute 300 Euro monatlich. Aber bei einer Erkrankung gibt es nur dann einen Monatszuschuss von 1200 Euro, wenn sie durch die Strahlung verursacht wurde.

Viele müssen vor Gericht gehen, um ihren Anspruch durchzusetzen, doch vier von fünf Klagen werden abgewiesen. Der Staat ignoriere auch die Gefahr durch den Fallout beim "schwarzen Regen" nach den Atombomben, berichtet der Physiker Shoji Sawada. "Die Regierung schweigt wegen der USA, die nicht zugeben wollen, dass der Fallout ihrer Atombombentests Leute verstrahlte."

Sorge um die Kinder

Auch die Eltern von 300.000 Kindern im Raum Fukushima bangen, weil die Rate an Schilddrüsenkrebs ungewöhnlich hoch ist. Die Behörden erklären dies als Effekt der Massenuntersuchung. Die Regierung hat bereits zwei Drittel der Sperrgebiete nach einer Dekontaminierung freigegeben. Allerdings hob man dafür den zulässigen Grenzwert auf 20 Milli-Sievert jährlich an – ironischerweise beruht der Standardgrenzwert von einem Milli-Sievert zu großen Teilen auf der Hiroshima- und Nagasaki-Forschung. Evakuierten, die nicht zurückkehren, werden die monatlich 800 Euro gestrichen. Auch kämpfen viele Bürger vor Gericht bisher vergeblich für einen Ausgleich des Wertverlustes ihrer Häuser und Grundstücke.

Der Arzt Saito sieht nur einen Weg, damit die Strahlenwunden seines Landes heilen: "Der Staat muss sich für Atombomben und Reaktorunfall entschuldigen und alle Betroffenen voll entschädigen – das ist das Mindeste." (Martin Fritz aus Tokio, 4.8.2020)