Die seit drei Wochen andauernden Demonstrationen in Bulgarien gegen die rechtskonservative Regierung und der offene Konflikt zwischen dem von den Sozialisten unterstützten Staatspräsidenten Rumen Radew und dem langjährigen Ministerpräsidenten Bojko Borissow haben die internationale Öffentlichkeit endlich auf die unerträglichen Zustände im Armenhaus der Europäischen Union aufmerksam gemacht. Die Geschichte des kleinen Balkanlandes ist seit der Aufnahme in die Europäische Union vor dreizehn Jahren eine Chronik unerfüllter Hoffnungen und enttäuschter Erwartungen.

Bulgarien gilt heute als der korrupteste EU-Staat, der während der Amtszeit der seit mehr als einem Jahrzehnt mit kurzen Unterbrechungen amtierenden Borissow-Regierung immer tiefer im Sumpf von Vetternwirtschaft und Netzwerken krimineller Oligarchen versunken ist. Dramatisch ist der Rückgang der Bevölkerung in den letzten 25 Jahren von neun auf sieben Millionen. Mehr als zwei Millionen Menschen haben das Land wegen der Perspektivlosigkeit verlassen, und bis 2050 rechnen die Experten mit einer weiteren Schrumpfung um 20 Prozent.

Die Proteste in Bulgarien reißen nicht ab.
Foto: AFP/NIKOLAY DOYCHINOV

Borissow (61), ein ehemaliger, in Moskau ausgebildeter Polizist, hat als Bürgermeister Sofias und dann als Chef seiner proeuropäischen Partei, GERB, nach taktischen Rücktritten seine Gegner immer wieder überspielt. Diesmal richtet sich der aufgestaute Zorn tausender junger Demonstranten vor allem gegen Borissow selbst und den ebenfalls der Korruption bezichtigten Generalstaatsanwalt.

Korruptionssumpf

Dass sich Staatspräsident Radew nach Durchsuchung der Büros seiner engen Mitarbeiter den Demonstrierenden angeschlossen und öffentlich den Rücktritt der Regierung mit "Mafia-Charakter" gefordert hatte, verlieh den landesweiten Protesten einen zusätzlichen Antrieb.

Borissow, der drei Minister ausgetauscht und das von den oppositionellen Sozialisten initiierte Misstrauensvotum leicht überstanden hat, lehnt vorgezogene Wahlen mit dem Hinweis auf die Pandemie und auf die im März fällige Parlamentswahl ab.

Man darf nicht vergessen, dass die viel größeren wochenlang andauernden, täglichen Demonstrationen von Zehntausenden im Jahr 2013 letzten Endes keine rechtsstaatlichen Reformen erzwingen konnten. Die Sozialisten haben wiederholt bewiesen, dass sie nicht weniger im Korruptionssumpf stecken als der Ministerpräsident und seine Partei. Die bittere Wahrheit ist, dass die Wahlen und formellen Änderungen in der Zusammensetzung des Parlaments und der Regierungen die Machtzentren der Oligarchen in der Wirtschaft, in den Medien und im Sicherheits- und Justizapparat nicht betroffen haben. Die auch von Oligarchen dominierte kleine Partei der türkischen Minderheit dient je nach Bedarf als Hilfstruppe der Regierenden.

Eine glaubwürdige politische Alternative ist nicht in Sicht. Die GERB ist Mitglied der Europäischen Volkspartei, und Borissow verhält sich außenpolitisch als ein EU-freundlicher Partner. Sein Vorgänger als Ministerpräsident, Sergei Stanischew, leitet die Sozialistische Partei und wurde Ende 2018 zum dritten Mal zum Vorsitzenden der europäischen Sozialdemokraten gewählt. Die innenpolitische Lage Bulgariens ist kein Thema in Brüssel.(Paul Lendvai, 4.8.2020)