Die Macht im Land hat Alexander Lukaschenko – doch die Sympathien fliegen Swetlana Tichanowskaja zu.

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Er finde die Präsidentschaftskandidatinnen am sympathischsten, bekannte jüngst Alexander Lukaschenko, der Langzeitpräsident von Belarus (Weißrussland). Deren Wahlkampagne sei ruhig und still. Trotzdem hätten sie mehr Unterstützerunterschriften gesammelt als die männlichen Kandidaten, die im Internet für sich werben, fügte er belustigt hinzu. Die Sympathie des Amtsinhabers für seine Herausforderinnen – zwei treten bei der Wahl an – hat noch einen weiteren Grund: Er sieht sie nicht als echte Konkurrenz an.

"Unsere Gesellschaft ist noch nicht reif genug, um für eine Frau abzustimmen", meinte er bei der gleichen Veranstaltung in einem Minsker Traktorenwerk. Und sprach nebenbei dem "schwachen Geschlecht" auch die Qualifikation ab, in der stark präsidential geprägten Belarussischen Republik die Führungsposition zu übernehmen. Das gehe nur in der parlamentarischen Republik Litauen, wo Dalia Grybauskaite "kam, saß, lächelte und wieder ging, ohne irgendwelche Verantwortung zu tragen", lästerte der 65-Jährige.

Doch so langsam dürfte ihm das Lachen vergangen sein – und schuld daran ist eine Frau, die eigentlich gar nicht an der Wahl teilnehmen wollte. Swetlana Tichanowskaja ist bloß für ihren Ehemann Sergej Tichanowski eingesprungen, einen Blogger und Unternehmer, den die Behörden als potenziell gefährlichen Gegenkandidaten Lukaschenkos schon vor der Registrierung aus dem Rennen nahmen und später wegen Störung der öffentlichen Ordnung inhaftierten.

Erste scharfe Kritik im TV

Doch die "Ersatzfrau" schlägt sich bei der Wahl mehr als ordentlich. Die 37-Jährige aus dem Gebiet Brest an der Grenze zu Polen wartete mit einer mutigen Kampfansage in ihren Wahlspots auf. Erstmals seit Jahren hörten die Belarussen so im Staatsfernsehen scharfe Kritik an ihrem Präsidenten. Tichanowskaja warf Lukaschenko Lüge und Manipulation, Einschüchterung und Gewalt vor und bezichtigte ihn der Korruption: "Wir brauchen keine 17 Residenzen wie die derzeitige Obrigkeit, wir brauchen keine Privatjets für mehrere 100 Millionen Dollar und keine teuren Events für den Präsidenten und seine Familie auf Kosten des Volkes – und wir werden euer Geld nicht für unser Vergnügen verprassen, wie es unsere jetzige Obrigkeit tut", versprach sie.

Tichanowskaja spricht einfach und ruhig, sie erzählt von der Angst um ihre Kinder nach anonymen Drohungen, aber auch von ihrer Entschlossenheit, für ihren inhaftierten Mann weiterzukämpfen. Tichanowskaja ist keine professionelle Politikerin, sie ist Übersetzerin und Fremdsprachenlehrerin mit einem Diplom für Englisch und Deutsch. Aber sie sieht sich auch nicht als Politikerin, sondern als Übergangspräsidentin, deren wichtigstes Ziel es ist, Bedingungen für eine faire Wahl in Belarus zu schaffen.

"Ukrainisches Szenario" als Damoklesschwert

Der von Lukaschenko geschürten Angst vor einem "ukrainischen Szenario" – dem Zerfall des Landes nach dem Maidan – begegnet sie mit dem Versprechen, die Souveränität des Landes zu erhalten und sich weder an die Nato noch an Russland zu verkaufen.

Ihre Ehrlichkeit kommt an: Sie hat es geschafft, die Opposition um sich zu versammeln. Die ebenfalls aussortierten Kandidaten Viktor Babariko und Waleri Zepkalo unterstützen sie, und Ende Juli bei einer offiziellen Kundgebung der Oppositionskandidatin in Minsk versammelte sie 63.000 Menschen im Park der Völkerfreundschaft.

Das war die größte Massendemo im Land seit der Unabhängigkeit 1991. Tichanowskaja ist damit zu einer echten Herausforderin Lukaschenkos geworden. Dessen fünfte Wiederwahl ist ungewisser denn je. Die Belarussen sind seiner müde. Für viele verkörpert Tichanowskaja eben jenen unverbrauchten Politikertypus, dem sie einen Neuanfang im erstarrten Land zutrauen. (André Ballin, 4.8.2020)