Auf dem Anklagestuhl nahm mit dem 27-jährigen S. kein Angeklagter, sondern ein Betroffener Platz.

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Wien – Wenn jemand, der durch mehrere Messerstiche lebensgefährliche verletzt wurde, über den Täter schluchzend sagt: "Er ist kein schlechter Mensch!", weiß man, dass es sich um eine besondere Geschichte handelt. Eine, die ungewöhnlich tragisch ist, wie das Geschworenengericht unter Vorsitz von Claudia Zöllner feststellen muss. Es geht um den 27-jährigen Herrn S. aus Wien-Donaustadt, der am 6. März versucht hat, seinen Vater zu töten. S. ist aber kein Angeklagter, sondern ein Betroffener, da er an paranoider Schizophrenie leidet, daher hat die Staatsanwaltschaft seine Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher beantragt.

"Ich hoffe, dass ich dort nicht hinkomm, weil ich nicht schizophren bin", ist der Kommentar von S. zu diesem Antrag. Der Pensionist ist nämlich überzeugt, nicht krank zu sein. "Ich habe gewusst, was ich mache", beteuert er ruhig. Denn er habe sich rächen wollen: "Ich wurde 26 Jahre gemobbt und von den Eltern auch geschlagen", behauptet er. Auch, dass seine Eltern immer wieder in seine Wohnung, die er kurz vor der Tat bekommen hatte, eingebrochen seien. "Ich hab schon wirklichen Verfolgungswahn bekommen", sagt S., meint aber nicht seine Krankheit.

Krankheitsausbruch nach massivem Cannabiskonsum

Seine Meinung zu dieser: Er habe mit 14 begonnen, massiv Cannabis zu konsumieren, dann habe er Depressionen bekommen. Deshalb sei er auch in ein psychiatrisches Krankenhaus gekommen, dort sei aber irrtümlich eine Schizophrenie diagnostiziert worden. "Und seither schreiben das die Ärzte immer", ist er überzeugt, warum mehrere stationäre Aufhalte folgten und er einen Erwachsenenvertreter hat.

Der Anklagevertreter prangert in seinem Eröffnungsplädoyer zu Recht an, dass der Angriff möglicherweise verhinderbar gewesen wäre, wenn es eine bessere Vernetzung bezüglich psychisch auffälliger Personen geben würde. Denn S. ist schon in den Monaten davor ein Fall für die Polizei geworden.

Faustschläge gegen Blinden

Im Dezember wurde er trotz Waffenverbots mit einem Kampfmesser erwischt. Im Jänner schlug er in der U-Bahn einem Blinden mehrmals mit der Faust ins Gesicht. Die Version von S. zu dieser Attacke: "Das war ein Mann mit einem Nordic-Walking-Stecken. Er hat mir die ganze Zeit auf den Schenkel gegriffen. Ich hab ihm gesagt, er soll aufhören, dann habe ich ihn geschlagen. Er hat nicht blind ausgeschaut." Im Februar schließlich prügelte er sich in einem großen transdanubischen Einkaufszentrum mit Sicherheitspersonal. Aus Selbstverteidigung, wie S. behauptet.

Was genau der Auslöser für den Angriff auf den Vater war, kann er nicht sagen. Er fuhr, wie schon öfters, zu seinen Eltern und klingelte. Der Vater ging davon aus, dass sein Sohn wieder Geld und Zigaretten wollte, packte beides ein und fuhr zur Übergabe ins Erdgeschoß. "Hast du Zigaretten für mich?", habe der Sohn nach dem Öffnen der Eingangstür noch gefragt. Als der Vater in seine Tasche griff, stach S. zu. Durch mehrere Bauchstiche lebensgefährlich verletzt, konnte sich das Opfer noch in den Lift retten, während S. davonlief.

Mordabsicht auch gegen Mutter

Nach seiner kurz darauf erfolgten Festnahme war der Betroffene dann überrascht, dass sein Vater überlebt hat. "Ich dachte, fünf Stiche reichen", sagte er zu einem Polizisten. Vor Gericht sagt S. nun: "Ja, es war ein Fehler und so. Ist eh gut, dass er überlebt hat." Und er verrät, dass er "eigentlich auch die Mutter" hätte töten wollen. "Das wär vielleicht wirklich blöd gewesen", bedauert er das heute.

Der Auftritt des 56-jährigen Vaters legt dann die ganze Problematik des Falles offen. Sein Sohn sei in der Vergangenheit nie aggressiv gewesen, sagt er unter Tränen. Nach einem stationären Aufenthalt im Jahr 2016 sei S. gut eingestellt gewesen. "Wir sind sogar gemeinsam auf Urlaub gefahren. Er war einsichtig und hat sogar selbst gesagt, er glaubt, er braucht wieder eine Depotspritze."

Väterliche Kritik an Krankenhaus

Die Einsicht ließ nach, stattdessen therapierte sich der Betroffene offenbar selbst mit diversen illegalen Rauschmitteln. Im Jahr 2019 sei der Sohn wieder stationär aufgenommen worden, da habe das Krankenhaus aber versagt – S. konnte die Station verlassen, sich Drogen besorgen und diese sogar im Krankenhaus konsumieren, empört sich der Vater.

Die mangelnde Krankheitseinsicht manifestierte sich auch nach der Festnahme des Betroffenen. "Ich habe im Gefängnis Medikamente genommen, damit ich nicht mehr in die Einzelzelle muss. Aber jetzt nehm ich sie schon zwei Monate nicht mehr", stellt S. klar.

Die Geschworenen brauchen nicht lange, um die zwei an sie gestellten Fragen zu beantworten: Ja, S. hat versucht, seinen Vater zu ermorden, und ja, er war dabei zurechnungsunfähig. Die Folge ist die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher, worüber sich der Betroffene echauffiert. "Sie machen einen Fehler!", protestiert er lautstark bei Vorsitzender Zöllner. "Kann ich wenigstens keine Medikamente nehmen in dieser Einrichtung? Wieso soll ich Medikamente nehmen, wenn ich gesund bin?", fragt er auch noch, ehe sein Rechtsanwalt sich Bedenkzeit nimmt. Die Entscheidung ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 4.8.2020)