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Die Geister, die sie rief: Marie Curie (Rosamund Pike) setzt Strahlung frei und erntet nur allmählich Anerkennung. Vorbild des Films: eine Graphic Novel von Lauren Redniss.

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Es scheint zweifelhaft, ob das stolze Paris, die Metropole der Belle Époque, laut Walter Benjamin zudem die "Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts", sich seinen fortschrittlichsten Bewohnern immer gewachsen gezeigt hat. Im Falle der polnischen Chemikerin Marie Curie würde man die dazugehörige Frage glatt verneinen.

Die vielleicht wichtigste Naturwissenschafterin der vergangenen 150 Jahre musste die Schwelle zur Neuzeit gewaltsam übertreten: mutwillig, unter Aufbietung aller ihrer Kräfte. Von der Freisetzung solcher unsichtbaren Energie- und Teilchenströme handelt folgerichtig Marjane Satrapis prächtig ausstaffierter Madame-Curie-Film "Radioactive" (auf Deutsch: "Marie Curie – Elemente des Lebens"). Und setzt, in Umdrehung der gewöhnlichen Erzählrichtung, mit dem finalen Signal von Maries vollkommener Erschöpfung ein.

Ein Sonnenstrahl verfängt sich in Curies (Rosamund Pike) schwarzen Brillen. Man sieht, wie noch öfter in Satrapis Bio-Picture, Laborräume voll mit Glaskolben und Bartträgern. Unmittelbar danach bricht die zweifache Nobelpreisträgerin im Nebenzimmer zusammen. Der Film schreibt das Jahr 1934. Der als Marie Sklodowska Geborenen fehlt es für die Fortführung ihres Werks einfach an Kraft.

Licht- und Gedankenblitze

Die Rückschau der Strahlenkranken ergibt eine Aneinanderreihung von Licht- und Gedankenblitzen. Und wirklich nimmt sich das Werk der gelernten Comiczeichnerin Satrapi wie ein Postskriptum zu Polanskis J’accuse aus. Wieder muss die Wahrheit gegen den Widerstand dominanter Männercliquen mühsam behauptet werden. Die Herren der "Académie", Walrosse mit Löwenmähnen, hüsteln pikiert. Sie sitzen in furchtbar unpraktischen Akademiesälen. Dort blasen sie Rauchkringel in die Luft, sobald Curie für ihre entbehrungsreiche Arbeit Anerkennung und, noch wichtiger: materielle Unterstützung einfordert.

Bald schon setzen Radium und Polonium, die beiden von Curie entdeckten Elemente, ihre – je nach Anwendungsform – todbringende oder segenspendende Strahlung frei. Das Ereignis bleibt jedoch das Gesicht der Hauptdarstellerin. Kein Anflug von Strahlung; eher schon umspielt Amüsement Pikes Züge. Über die Avancen ihres späteren Mannes Pierre (Sam Riley) scheint sie namenlos erstaunt. Zur Gewinnung der von ihr später nachgewiesenen Stoffe zerstampft sie Pechblende im Mörser: Bilder wie aus einem Grimm’schen Märchen. Die Beförderung des Fortschritts ist auf Praktiken angewiesen, die mehr mit der menschlichen Vorzeit zu tun haben.

Unheilbringende Substanz

Irgendwann sieht man Curie mit einer kleinen Probe Radium ins Bett schlüpfen: einem winzigen Fläschchen, das eine ungesund leuchtende, hellblaue Substanz enthält. Fortan wird Pierre, den sie pragmatisch liebt, aber auch sie selbst von immer heftigeren Hustenanfällen erschüttert. Als ob es an der Entfesselung der Naturkräfte nicht genug Zweifel gäbe, legt Satrapi ein paar Kohlestücke nach.

Reichlich unvermittelt blendet der Film in die Zukunft hinüber. Man hat es geahnt: Atomversuche bringen Mensch und Reihenhaus erbarmungslos zum Schmelzen; Hiroshima bildet ebenso ein Fanal wie die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Hehre Anliegen sind kitschanfällig, und auch Moralinsäure gehört entsorgt. Nicht von ungefähr überzeugt Satrapis Film eher dann, wenn er rund um seine Heldin Staub und Finsternis aufwirbelt. Pech gehabt hat Marie Curie ja. (Ronald Pohl, 6.8.2020)