Kultursommer: Emotionen soll man sich im Sitzviereck möglichst sparen.

Foto: Kultursommer/Nikolaus Ostermann

"Nein danke, will ich nicht", sagt eine Frau, als ein Security-Mitarbeiter sie bei einer Kultursommer-Veranstaltung auffordert, ihre Kontaktdaten aufzuschreiben. Sie marschiert zielstrebig Richtung Bühne, der Security hirscht ihr – mit babyfantischem Abstand – hinterher, erklärend, dass das keine Frage des Wollens sei. Eigentlich eine ganz schöne Parabel auf den Kultursommer selbst – den wollte ursprünglich auch niemand umsetzen müssen.

Denn die Aktion der Hauptstadt, auch "Wien dreht auf" genannt, ist nicht aus Spaß an der Freude, sondern ob der Pandemie entstanden. Als sich abzeichnete, dass es um die Öffnung des Kulturbetriebs schlecht steht, Künstler auf die Barrikaden gingen und der Wahlkampf heranrückte, wurde eins und eins zusammengezählt, Brot und Spiele waren das Rechenergebnis. Das Brot für die Künstler, die Ton- und Bühnentechniker sowie den ganzen Produktionsapparat, die Spiele fürs Publikum. Vier Millionen Euro kostet das Spontanfestival, dieser Kultursommer, der jetzt in die zweite Halbzeit geht. Wie läuft’s also?

Bunt und tadellos organisiert

Es gibt allerhand, was die Kuratoren und Organisatoren hinter dem Festival richtig machen. Das Programm ist bunt und divers, aber nicht beliebig, die Organisation ist, besonders eingedenk der kurzen Vorlaufzeit, tadellos. Auch das Contact-Tracing wird laut Büro der Kulturstadträtin Kaup-Hasler gut angenommen – sogar die Frau am Beginn dieses Artikels lässt sich letztlich davon überzeugen, ihre Kontaktdaten aufzuschreiben, nachdem sie verstanden hat, dass der Security ihr kein Gewinnspiel aufschwatzen wollte.

Die Location am Naschmarkt (bei einer anderen als der beschriebenen Veranstaltung).
Foto: Kultursommer

Als auch sie endlich sitzt, geht es bei 30 Grad schon mit der Lesung von Daniel Wisser und Gertrud Klemm auf einer der kleineren Bühnen am Naschmarkt los. Die Besucher: drei Journalisten, der Kurator der Literaturreihe, Fritz Ostermayer, Freunde der Lesenden und fünf Interessierte. Für eine Lesung bei solcher Hitze eigentlich top. Immer wieder verweilen Passanten kurz hinter den Absperrungen oder bleiben ganz da, gegen Ende der Lesung sind fast alle Plätze besetzt – Wisser und Klemm machen ihre Sache gut.

Emotionen im Zaum

Freilich gelingen nicht alle Events des Kultursommers. Man hört von leeren Konzertlocations oder bestenfalls lauwarmer Stimmung. Und etwas skurril ist das alles freilich auch, wie die Wiener Band Dives erzählt: "Bei Konzerten weist die Moderation die Leute darauf hin, ihre Emotionen im Zaum zu halten. Keine Standing Ovations, niemand sollte sein zugewiesenes ‚Sitzviereck‘ verlassen. Das ist schon sehr anders, als alle das gewohnt sind." Trotzdem können Dives die pedantischen Sicherheitsmaßnahmen nachvollziehen. "Einen Corona-Fall kann und will man sich als Stadt Wien einfach nicht leisten." Das Konzert der beliebten Gruppe war nach zwei Wochen der erste Kultursommer-Event, der ausreserviert war.

20.000 Besucher verzeichnet "Wien dreht auf" bis jetzt, was bei einer Gratis-Veranstaltungsreihe, die wöchentlich von donnerstags bis sonntags stattfindet und bei der mittlerweile 400 Acts auftraten, auch in Corona-Zeiten nicht berauschend viel ist. Anfangs wurden die Events – vermutlich aus Angst, es könnten zu viele Leute kommen – vom Stadt-Wien-Marketing kaum beworben; hier hat man nun aber nachjustiert.

Das Feedback der Besucher sei gut; auch die Künstler sind über die Initiative der Stadt froh, wie Günther Friesinger von der IG Kultur beobachtet: "Die Möglichkeit, aufzutreten und auch ein faires Honorar zu bekommen, ist für viele Künstler enorm wichtig." 500 Euro pro Kopf gibt es für die Auftritte.

"Diese Gagen retten uns als Band über den Sommer. Wir haben gerade keine Einnahmen, müssen aber natürlich weiterhin Proberaummiete und anderes bezahlen. Wir fallen nicht in den Bezugskreis für den Härtefallfonds oder Vergleichbares", erzählen Dives.

Vengabus auf Wienerisch

Schauplatz Spittelau, Nieselregen, 16 Grad. Vor der Müllverwertungsanlage steht er: ein umgebauter, bunter Hop-on-hop-off-Bus, der heuer großteils das Donauinselfest ersetzt. Seine Mission: in 80 Tagen durch Wien. Wo und wann das Donauinselfest auf vier Rädern stattfindet, ist für die Allgemeinheit allerdings nur schwer zu erfahren – in den Genuss kommt, wer zufällig in der Gegend ist.

Juhu, der Bus ist da! Hier sogar bei Sonne – wir hatten weniger Glück.
Foto: Dif/Thomas Peschat

Thomas Waldner, im achten Jahr Projektleiter des Donauinselfests, ist sich der Problematik des oft fehlenden Publikums bewusst: "Wir haben das intensiv mit den Behörden besprochen. Doch das Donauinselfest war nur möglich, wenn die Events echte, spontane Pop-ups sind, keine Mobilisierungen von Menschenmassen." Mittlerweile dürfen die Acts ihre Konzerte zwei Tage im Vorhinein ankündigen, auch hier wurde, wie beim Kultursommer, in der Kommunikation nachgebessert.

Ursprünglich wollte Waldner ein Boot auf der Alten Donau bespielen, geworden ist es dann der Tourbus. Der Projektleiter kannte ein ähnliches Konzept aus Spanien. "Man erreicht völlig andere Leute, die sonst nie auf ein Donauinselfest gehen würden, den Bus aber cool finden. Auch der Gedanke der Dezentralisierung gefällt mir." Waldner schätzt, dass er heuer mit 40 Prozent der Kosten des Donauinselfests, das normalerweise 4,2 Millionen Euro verschlingt, auskommt.

Mitten im Interview entschließt sich die Vienna Blues Association, trotz Regens die Plane des Busses zu öffnen und zu spielen. Bei der kleinen Traube Menschen, die sich unter den Schirm des gegenüberliegenden Würstelstands gepfercht hat, kommt schnell Stimmung auf. "Wir machen das ja vor allem für die Artists, die so lange nicht spielen konnten. Und wir alle brauchen das, quasi für die Psychohygiene", lächelt Waldner.

Konkurrenz vor der Tür

Dass die Künstler Geld bekommen und spielen können, freut Kulturproduzenten und Veranstalter zwar. Bei ihnen selbst bleibt davon aber wenig bis nichts hängen. "Veranstalter sehen die kostenlosen Events natürlich äußerst kritisch. Ein großer Teil von ihnen bekommt üblicherweise keine Subventionen, sondern erwirtschaftet sich den Umsatz am freien Markt. Nun sieht man sich aber mit unzähligen kostenlosen, subventionierten Veranstaltungen konfrontiert, die hier eine große Konkurrenz darstellen", erklärt Friesinger von der IG Kultur.

Marlies Stohl, die in ihrem neuen Lokal, Usus am Wasser, kostenpflichtiges Kulturprogramm veranstaltet, ergänzt: "Anstatt in den kurzfristigen Aufbau temporärer Infrastruktur zu investieren, hätte die Stadt in die bereits existierenden Strukturen investieren können und damit viele Unternehmen und Selbstständige mitten in der Corona-Krise finanziell abgefedert."

Das wirft natürlich die Frage auf, ob das Geld für Kultursommer und Donauinselfest in der Krisenzeit nicht solidarischer hätte verteilt werden können, und zwar an "Kulturproduzent_innen, Veranstalter_innen, Clubs und Venues, die im Sommer gerne selbst etwas auf die Beine gestellt hätten", sagt Marlene Engel, Veranstalterin der Hyperreality-Festivals. "Weil die Stadt Veranstalterin ist, ist es auf einmal möglich, so etwas Künstliches wie den Kultursommer aus dem Boden zu stampfen. Nebenan geht eine ganze Szene ein."(Amira Ben Saoud, 6.8.2020)