Alexander Nitzberg lebt seit 2010 in Wien.

Foto: Xenia Nitzberg

Sein erstes Gedicht hat Alexander Nitzberg mit elf Jahren für seine Mutter zum Geburtstag übersetzt: Puschkin. Kurz zuvor war die Familie von Moskau nach Deutschland übersiedelt. Inzwischen kann man, was in der russischen Literatur Rang und Namen hat, auf Deutsch von ihm lesen: Von Bulgakows Meister und Margarita über Wladimir Majakowski, Anna Achmatowa und Daniil Charms bis zu Dostojewskis Der Spieler hat er Klassiker und Entdeckungen übersetzt. Im Sommer hätte Nitzberg den Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung entgegennehmen sollen, wegen Corona wird es nun erst im Herbst so weit sein.

STANDARD: Sprache ist voller Grauzonen, Worte sind vieldeutig. Es gibt fast ideologische Kämpfe, übersetzt man nun das Wort oder die Wirkung?

Nitzberg: Für mich ist literarische Übersetzung eine Kunst, und Kunst lebt in erster Linie von Wirkungen, nicht von Bedeutungen. Bedeutung wird erst über die Wirkung im Leser erzeugt. Der Dichter teilt nicht Bedeutungen mit, sondern legt Wirkungen an, die dann im Leser selbst erblühen. Das erwarte ich auch von meinen Übersetzungen. Was hilft es, wenn ich wörtlich übersetze und dann eine Fußnote brauche, weil ich es dem Leser erklären muss? Er sollte spontan verstehen. Mit Wortwörtlichkeit tut man nur den Vollblutphilologen und Wörtlichkeitsfanatikern einen Gefallen.

STANDARD: Was erzeugt Wirkung?

Nitzberg: Zur Semantik kommt etwa ein bestimmter Rhythmus dazu. Wenn es um Klangballungen geht, spielt jede Silbe eine Rolle.

STANDARD: Darf man der Übersetzung den Übersetzer anmerken?

Nitzberg: Wir versuchen jedes Mal, eine Art Kunstsprache zu erfinden, die der Sprache des Originalautors angemessen ist. Dostojewski etwa schreibt ja nicht auf Russisch, sondern auf Dostojewskis Russisch, und wir erschaffen ein Deutsch, von dem wir denken, dass es in der Lage ist, alles aufzunehmen, was er zu sagen hat. Es ist meine Aufgabe als Übersetzer, diesen Akzent zu setzen. Rudolf Borchardt hat in den 1920ern Dantes Göttliche Komödie übersetzt und gemerkt, dass er dessen Sprache mit unseren Mitteln nicht nahekommt. Er hat also am Reißbrett ein Deutsch erfunden, das klang, als hätte sich das Mittelhochdeutsch weiterentwickelt. Irrsinnig!

STANDARD: Sie haben Bulgakows "Hundeherz" in "Das hündische Herz" umbenannt. Ist ein neuer Titel das Größte, das man erreichen kann?

Nitzberg: Beim Übersetzen zählt einzig das Ergebnis, und dafür würde ich mir alle Freiheiten der Welt nehmen. Ich benenne auch Figuren um, wenn es die Situation erfordert. Bei Gogol haben etwa viele Personen sprechende Namen, das ist fast wie im Kasperltheater. Denen ihre russischen Namen zu lassen, die kein Deutschsprachler versteht, widerspräche ja der Idee des Autors.

STANDARD: Muss man mit Verlagen um solche Freiheiten ringen?

Nitzberg: Man würde natürlich bei Hamlet nicht den Namen ändern.

STANDARD: Und mit Autoren?

Nitzberg: Ich erwarte von einem Autor, dass er sich mir ein Stück weit ausliefert und darauf vertraut, dass ich weiß, was ich tue. Ich habe aber leider auch schon mit einem Autor gearbeitet, der seine Gedichte parallel zu mir selbst übersetzt und seinen Zahnarzt gefragt hat, was er von dem und dem Wort hält.

STANDARD: Wie nähern Sie sich einem Text an, den Sie übersetzen?

Nitzberg: Bei Gedichten lasse ich mich stark vom Klang und Rhythmus infizieren, indem ich sie auf Russisch vor mir herspreche. So weiß ich bald, wo die Wirkungen liegen. In dieses Metrum spreche ich dann den ersten Vers auf Deutsch hinein. Oft ist es erst nur ein einzelnes Wort, das vom Klang her hineinpasst. An einer anderen Stelle hört man dann ein anderes Wort heraus, aber die Zwischenräume werden erst nach und nach gefüllt. Es gibt Glücksfälle, wo einem eine Übersetzung zufällt und man ein Gedicht in fünf Minuten macht. In anderen Fällen sitzt man an acht Zeilen Monate, nur weil eine Silbe falsch ist. Wenn man fertig ist, spürt man das aber sofort. Dann schließt sich der Stromkreis: Die Glühbirne geht an.

STANDARD: Und bei Romanen?

Nitzberg: Ich habe Romane auch schon ganz bewusst übersetzt, ohne sie vorher gelesen zu haben. Natürlich kommt man dabei oft erst später drauf, dass man anfangs etwas falsch verstanden hat, aber so zu arbeiten hat auch seine Vorzüge, weil das Studieren eines Werks, seiner Interpretationen und Kritiken einen sofort auf eine gewisse Schiene bringt. Naiv an einen Text heranzugehen hat mir schon oft geholfen, Dinge zu erkennen, wo ich mir gedacht habe: Die ganze Welt kennt die Stelle und deutet sie auf diese Weise, dabei steht kein Wort davon da!

STANDARD: Übersetzer beklagen oft zu wenig Anerkennung für ihre Arbeit.

Nitzberg: In manchen Kundenbewertungen auf Amazon liest man, der Übersetzer solle doch einfach das übersetzen, was da steht. Doch generell spielen Übersetzer heute eine viel größere Rolle als früher. In älteren Ausgaben von Balzac steht der Name des Übersetzers ganz klein irgendwo, man hat es einfach gelesen ohne das Bewusstsein dafür, dass es ja nicht der originale Balzac ist. Wer heute eine Übersetzung liest, erwartet sich eine Auseinandersetzung mit der Sprache.

STANDARD: Klassiker werden zwecks Verständlichkeit mitunter sehr bewusst in heutige Sprache übertragen.

Nitzberg: Ich sehe keinen Gewinn dabei. Sprache ist mit Geschichte verbunden. Beim Übertragen der Sonette des englischen Renaissancedichters Edmund Spenser habe ich eine barocke Sprache mit Ausdrücken wie "Marmel" gewählt. Wenn man heute "Marmel" für Marmor benutzt, bewegt man sich damit zwar an den Rändern, aber es löst etwas aus. Manche Leser fühlen sich an ihre Kindheit oder Märchen erinnert. Das finde ich lohnenswert. Sonst verengt sich der Blick immer mehr! Unsere heutige Sprache ist ja nur ein schmales Feld. Warum soll sich der alles anpassen? Sprache hat viele Schatzkammern.

STANDARD: Ist "politische Korrektheit" also ein Reizwort für Übersetzer?

Nitzberg: Ich höre oft von Kollegen, man könne etwas so nicht übersetzen. Solche Behauptungen finde ich katastrophal. Denn sie basieren nicht auf der Frage, was ein Werk bedeutet. Sie stehen also außerhalb des Kunstbereichs. Dostojewski wäre heute gewiss eine Persona non grata. Wenn man davor Angst hat, soll man lieber ganz die Finger von ihm lassen! Mit politisch korrekten Fragestellungen von heute braucht man ihn auch gar nicht erst zu lesen, denn so wird man ihn nie verstehen. Politische Korrektheit ist 30 Jahre alt, will sich aber das ganze Weltkulturerbe anpassen. Was soll das? (Michael Wurmitzer, 6.8.2020)