Alexander Lukaschenko tritt selbstbewusst auf, ist jedoch nicht mehr unangefochten.

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Sie hat kein Programm, sie hat keine politische Erfahrung. Und doch ist die 37-jährige Swetlana Tichanowskaja innerhalb kürzester Zeit zur gefährlichsten Herausforderin von Alexander Lukaschenko avanciert, der Belarus (Weißrussland) seit mehr als einem Vierteljahrhundert unangefochten beherrscht.

Eigentlich sollte die fünfte Wiederwahl des von den USA als "letzter Diktator von Europa" Geschimpften am Sonntag reine Formsache sein: Denn in der kleinen Republik an der Bruchstelle zwischen Ost und West hatte der 65-Jährige alles im Griff. Er kontrolliert die Sicherheitsorgane und die Medien, seine Vertraute, die Wahlleiterin Lidia Jermoschina – immerhin auch schon seit 1996 im Amt –, die Registrierung der Kandidaten und die Auszählung der Stimmen. Die politische Apathie der Bürger und die Angst vieler vor politischen Turbulenzen wie in der Ukraine galt als Garant dafür, dass die Belarussen selbst beim fantastischsten Ergebnis nicht aufbegehrten.

Wahl für Opposition gefälscht

Immerhin hatte Lukaschenko so die Wahlen stets mit rund 80 Prozent der Stimmen gewonnen, wobei er sich sogar rühmte, Abstimmungen gefälscht zu haben – freilich zugunsten der Opposition. Denn eigentlich habe er ein Ergebnis von über 90 Prozent erzielt, doch ein solches Resultat wäre in Europa schlecht aufgenommen worden, darum habe er seine eigenen Werte gesenkt, behauptete er. Und ließ gleichzeitig die Opposition niederknüppeln, die 2006 und 2010 nicht an diese ungeteilte und umfassende Liebe des Volkes zu ihrem Führer glaubte und demonstrieren ging.

Doch allgemeinen Charakter trugen die Unmutsbekundungen tatsächlich nicht. Den meisten Belarussen war die Politik egal, solange sie selbst nicht von Beamtenwillkür betroffen waren.

Anderes Stimmungsbild

Heuer scheint das anders. Wirklich zuverlässige Umfragen gibt es in Belarus zwar nicht, doch das Stimmungsbild ist ein anderes als je zuvor. Die Unzufriedenheit ist groß. Das belegen nicht nur Diskussionen in Internetforen und unter Experten, sondern auch die Bilder von der Straße. Die Leute standen Schlange, um ihre Unterschrift für Oppositionskandidaten abzugeben.

Tagelang protestierten sie nach den dubiosen Straf- und Wahlausschlussverfahren gegen die drei mutmaßlich schärfsten Herausforderer Lukaschenkos, Sergej Tichanowski, Wiktor Babariko und Waleri Zepkalo. Und die als Ersatzfrau für ihren Mann eingesprungene Swetlana Tichanowskaja sammelte zuletzt 63.000 Demonstranten in Minsk. So viele Menschen waren seit 1991 nicht gegen den Willen des Regimes auf der Straße.

Wunsch nach Veränderungen

Die Unzufriedenheit hat viele Ursachen: Viele Menschen sind Lukaschenkos nach 26 Jahren im Amt und der Aussicht auf eine Erbmonarchie – Sohn Nikolai begleitet den Präsidenten immer öfter bei offiziellen Anlässen – müde. Die wirtschaftliche Lage hat sich zuletzt verschlechtert, das ständige Schaukelspiel zwischen Ost und West gelang Lukaschenko in jüngster Zeit immer schlechter. Und auch sein internationaler Alleingang beim anfänglichen Ignorieren der "Corona-Psychose" hat viele Belarussen verunsichert.

Und so hat Tichanowskaja bei einer fairen Auszählung womöglich tatsächlich eine Chance. Doch an die Fairness mag sie selbst kaum glauben. Daher rief sie am Mittwoch Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel um Hilfe: Sie solle auf Lukaschenko einwirken, damit dieser nicht betrüge, bat sie.

Feindbilder im Wahlkampf

Doch Merkels Einfluss dürfte gering sein. Lukaschenko präsentierte sich zuletzt einmal mehr als starker Mann und Retter der belarussischen Nation, die von ausländischen Mächten und ihren Handlangern von der Opposition bedroht werde. Mit dem äußeren Feindbild will er das Volk hinter sich scharen.

Außenminister Wladimir Makej erklärte bereits vorsorglich, die Obrigkeit sei gezwungen, auf mögliche Gefährdungen der Souveränität des Landes während des Wahlkampfs angemessen zu reagieren. Mit Militärmanövern an der Ost- und der Westgrenze will Lukaschenko ein Zeichen setzen.

Es ist wohl auch ein Zeichen an seine innenpolitischen Gegner: Er hat immer noch alle Hebel der Macht in seiner Hand. Kampflos wird er sie nicht aufgeben. Für Tichanowskaja dürfte es daher fast noch schwerer werden, den Sieg festzuhalten, als ihn tatsächlich in einer Wahl zu erringen. (André Ballin, 6.8.2020)