"Hör sofort auf zum Hiasln!" Dem kleinen Hansi fiel vor lauter Schreck und Schuldbewusstsein der Ziegelsplitter aus der Hand, mit dem er Mauern und Türen bemalt hatte. Dabei waren seine Zeichnungen so schön geworden! Seinem Papa war's mehr als peinlich, hundertmal entschuldigte er sich beim Hausbesitzer – keinem Geringeren als dem Prälaten des Stiftes Dürnstein in der Wachau. Doch der war unerwartet ganz derselben Meinung wie Hansi und schenkte dem offensichtlich künstlerisch begabten Buben Papier und Stifte.

So geschah es, laut einer Künstlerbiografie, vor nicht ganz 300 Jahren. Aus dem kleinen Hansi wurde später Martin Johann Schmidt, besser bekannt als der "Kremser Schmidt", einer der bedeutendsten Maler des österreichischen Spätbarock. Und angefangen hat auch er mit Street-Art.

Eine liebe kleine Schnurre – mit durchaus aktuellem Bezug: Denn zwischen verbotenem Geschmiere und hoher Kunst liegt bis heute nur ein schmaler Grat. Im Stift Dürnstein wäre man wohl überglücklich, hätten sich Schmidts Kinder-Kritzeleien bis heute erhalten. Und doch sind es dieselben Leute, die diese frühen Werke des Meisters mit Oh und Ah bewundern würden, die dann Fotos von bunt besprayten Verteilerkästen ans "Bezirksblatt" schicken – zum Thema "Schandfleck der Woche".

Der 15. Bezirk ist ein Füllhorn für innovative Street-Art, wie hier am Haus Schwendergasse 1.
Foto: Albert Warpechowski

Sachbeschädigung als Kommerz

Ebenfalls Schwendergasse 1: Fastfood-Ikonen werden zu Grabe getragen.
Foto: Albert Warpechowski

Dieser Tage geht in Wien unter großer Medienaufmerksamkeit das bereits fünfte Calle-Libre-Festival über die Bühne. Quer durch die Stadt sprayen, malen und zeichnen internationale Künstler riesige Murals, große Wandbilder, die im öffentlichen Raum zu sehen sind. "Des Graffiti-Zeigs is jo eh net so schiach!", kommentiert der echte Wiener angesichts der auffälligen Werke und sonnt sich im ungewohnten Gefühl von Toleranz und Weltoffenheit. Doch mit Street-Art im eigentlichen Sinne hat dieser Zugang nicht mehr viel zu tun, findet Knarf – einer der am längsten aktiven und bekanntesten Street-Artists in Wien. "Street-Art, wie sie heute oft präsentiert wird, wird immer mehr zum Sell-out." Oft gehe es bei Street-Art-Festivals nur vordergründig um die Kunst, dahinter winkt kräftiger Profit – für die Veranstalter, die Künstler selber sehen wenig bis keine Gage.

Knarf ist Künstler und, zusammen mit Niklas Worisch, Organisator in der Burggasse 98, einer Gemeinschaftsgalerie und Anlaufstelle sowie ein Angelpunkt für Wiener Street-Art-Activity. "Es geht viel zu sehr um das Geld. Viele Künstler, die eine Wand machen, sehen das vor allem als Werbung, damit die Leute ihre Sachen kaufen. Das erzeugt ein falsches Bild, und fast niemand hinterfragt das kritisch. Aber es ist einfach ein brandaktuelles Thema, das sich gut verkaufen lässt."

Das Haus der Galerie Burggasse 98 mit prächtiger Fassade.
Foto: Niklas Worisch

Banksy in der Wieden

Bestes Beispiel für die Kommerzialisierung der Straßenbilder ist natürlich der Brite Banksy, der vom Stencil-Anarchist zum "household name" und zur fixen Größe im Kunstmarkt geworden ist und dessen Werke mittlerweile weltweit zu astronomischen Preisen gehandelt werden. Wie der aufgesprühte Polizist mit dem Smiley-Face am Haus Schleifmühlgasse 4 im vierten Wiener Gemeindebezirk, der vor zehn Jahren unter dubiosen Umständen sorgfältig abgenommen wurde und nun vermutlich in einer internationalen Nobelgalerie hängt. Stattdessen prangt dort jetzt übrigens der eingeritzte Schriftzug "Banksy hates you" – laut verlässlicher Quellen sogar vom Meister selbst in die Wand gemeißelt.

"Das hat mit der freien Idee von Street-Art – 'Ich gehe raus und setze mein Zeichen' – überhaupt nichts mehr zu tun", so Knarf. "Der ursprüngliche Zugang von Street-Art ist ja großartig: Sie passiert im öffentlichen Raum, und jeder, der sich draußen bewegt, kann sie jederzeit wahrnehmen und auch daran teilnehmen." Es geht darum, so Knarf, dass man sich den öffentlichen Raum zurückholt – doch genau dadurch wird erst recht wieder Potenzial für dessen Kommerzialisierung geschaffen, Stichwort Gentrifizierung.

Die Message passt: "I am some art" (6., Hofmühlgasse 22).
Foto: Albert Warpechowski

Eines der deutlichsten Beispiele dafür ist der Donaukanal: "Es gibt auch hier immer noch viel zu entdecken. Aber der öffentliche Raum wird hier brutal ausgeschlachtet. Jetzt ist alles voll mit Gastronomie – aber nichts davon wäre dort, wenn nicht alles so vollgesprayt wäre und deswegen voll mit jungen Leuten."

Manche der Murals werden sogar mit Plexiglas "geschützt", wie etwa der Fisch Alexis Diaz’ beim Neni Beach. Eine Absurdität. Street-Art ist nichts für die Ewigkeit, per definitionem. Und so sind auch die meisten Werke von Knarf oder den anderen Wiener-Street-Art-Stars wie Nychos, Golif, Busk oder Skero längst übermalte Geschichte.

Das florale Werk von Luna Doz zum Beispiel findet sich am Mariahilfer Gürtel.
Foto: Albert Warpechowski

Interessante Interventionen

Aber wo kann man denn dann in Wien noch Street-Art erleben, wie sie sein soll? "Der Wiental-Radweg vor Hütteldorf etwa ist immer noch ein extrem spannender Platz. Links der Zug, rechts die U-Bahn, und ein ständiger Austausch von Bildern. Das ist für mich Stadt in Motion. Und generell gilt: Einfach mit offenen Augen rumgehen und auch eigene Interpretationen zulassen. Kleine, spontane Eingriffe in den öffentlichen Raum sind für mich die interessantesten Sachen – ein Werbeplakat, das jemand ‚verziert‘ hat, oder Graffiti-Tags. Wenn jemand auf eine organisierte Wand zwei Wochen lang zehn Gesichter draufmalt – sicher sieht das dann gut aus, aber es ist inhaltlich das Langweiligste, was passieren kann. Klar findet man etwas schön, wenn es schön ist. Aber das ist halt auch ein bisschen berechnend. Das hat nichts mit lokalen Spannungsfeldern zu tun, das könnte überall sein. Bei Straßenkultur geht es darum, dass man sich ausdrückt, interessante Interventionen schafft."

Street-Artist Knarf mit handsigniertem T-Shirt, designt vom berühmt-berüchtigten Puber.
Foto: Gini Brenner

Denn: "Hauptintention von Street-Art war immer, dass man sie dort macht, wo es nicht erlaubt ist." Stichwort Puber: Der junge Schweizer Renato S. taggte jahrelang ganz Wien mit seinem Signaturkürzel "Puber" voll, bis er 2014 schließlich festgenommen wurde.

Knarf: "Die breite Masse findet Puber scheiße. Verständlich, er hat Eigentum zerstört. Aber das ist halt Graffiti in seiner ungefiltertsten Form. Er hat sich nie überlegt, wie er es verkaufen kann oder wie es für andere wirkt, sondern er hat es einfach gemacht."

Aktionismus pur. Und so findet die alte Frage "Ist es Kunst, oder kann es weg?" in der Street-Art ihre Antwort, und der scheinbare Gegensatz beginnt sich aufzulösen: Auch Pubers verbliebene Tags werden schon in Galerien gehandelt. (Gini Brenner, 6.8.2020)