Vorbereitungen für die Corona-bedingt nur online gehaltene Ostermesse 2020 in Lourdes.

Foto: APA

Wenn es einen gibt, der niemals den Wunsch gehabt hat, Lourdes zu sehen, dann bin ich es." Was für ein Start! Und was für ein Ende. Als Joris-Karl Huysmans’ literarischer Bericht, Lourdes – Mystik und Massen 1906 in Frankreich erscheint, hat der Autor nur noch ein Jahr zu leben. Schon während der Fertigstellung des Buchs, das nun erstmals in deutscher Übersetzung von Hartmut Sommer vorliegt, hatte der französische Autor mit einer Krebserkrankung zu kämpfen. Am 12. Mai 1907 stirbt Huysmans im Alter von nur 59 Jahren.

Dekadenz jeglicher Art

Bekannt wurde Joris-Karl Huysmans allerdings nicht als katholischer Gottsucher. Ganz im Gegenteil. In den der Zeit geschuldeten, etwas schwülstig-naturalistischen Romanen À Rebours (Gegen den Strich) und Là-bas (Tief unten) von 1884 und 1890 beschäftigte er sich viel lieber lustvoll mit Dekadenz jeglicher Art. Er unternahm rezeptionsgeschichtlich immer gern gelesene "Höllenfahrten" hinunter in den gesellschaftlichen Keller.

Dandy Huysmans interessierte sich neben heute längst gängigen und halbwegs akzeptierten Ausschweifungen speziell für Okkultismus und Satanismus. Dafür nahm er schließlich als Höhepunkt seiner autobiografischen Irrungen und Wirrungen für Tief unten sogar an einer schwarzen Messe teil. Hier kamen erste Zweifel auf. Am Schluss von Tief unten, allein da draußen in der ewigen Finsternis, wird dann doch Gott um Mitleid angerufen.

"Spiritueller Naturalismus"

Ende neu: Huysmans jedenfalls orientierte sich danach radikal um. Er entwickelte einen "spirituellen Naturalismus" und wurde so mit dem Zyklus um sein literarisches Alter Ego Durtal zu einem für seine "Reflexionsprosa" (FAZ) gefeierten und geläuterten katholischen Bestsellerautor. Vom Skandal zum christlichen Symbolismus: Die Werke En Route (Auf dem Weg), La Cathédrale (Die Kathedrale) und L’Oblat (Die Oblate), um die Jahrhundertwende entstanden, sind heute kaum noch bekannt. Zuletzt tauchte Huysmans bei Michel Houellebecq in dessen Roman Unterwerfung auf. Dessen Protagonist François ist Literaturwissenschafter mit Huysmans-Expertise.

Für seinen Bericht aus dem südfranzösischen Wallfahrtsort Lourdes, in den Huysmans zwei jeweils mehrere Wochen dauernde Recherchereisen unternahm, ließ sich der Autor damals von Émile Zola beeinflussen. Der hatte erst wenige Jahre zuvor Lourdes als Teil seines Romanzyklus Les Trois Villes veröffentlicht.

Religiöse Hysterie

Huymans war von seinem Glauben her ein ästhetischer Snob. Im Wesentlichen ließ er nur gotische Kirchen und, privat-obsessiv, Matthias Grünewalds Renaissancemeisterwerk, den Isenheimer Altar, gelten. Zu diesem unternahm er sogar eine eigene Pilgerfahrt. Mit dessen Abbild auf dem Nachttisch starb er auch.

Émile Zola wollte in seinem Lourdes mit beißendem Spott die auch französisch-nationalistisch verbrämten Wallfahrten bloßstellen – inklusive der dortigen 18 Marienerscheinungen des Bauernmädchens Bernadette im Jahr 1858. Diese lösten damals eine religiöse Hysterie sowie diverse Wunderheilungen vor Ort aus und machten Lourdes in gewissem Sinn mit seiner dazugehörigen Wallfahrtsindustrie zu einem religiösen Hotspot. Europaweit entstanden damals hunderte Nachbildungen der Grotte. Allein in Österreich existieren Dutzende davon.

Kirchlicher Protz und Prunk

Auch Huysmans war von all dem billigen kirchlichen Protz und Prunk vor Ort abgestoßen. Allerdings schwelgt er in seinem Bericht nicht nur mit geschärften Sinnen in ausführlichen Schilderungen all des kirchlichen Reichtums und der minutiösen Beschreibung der körperlichen und geistigen Beschwerden der herangekarrten Wallfahrer. Er ist auch bereit, die scheinbar selbstheilenden Kräfte und die religiöse Verzückung der einfachen Gläubigen durchaus ernstzunehmen. Das macht dieses mit großer Kraft geschriebene Buch bis heute zeitlos. Eine Entdeckung. (Christian Schachinger, 7.8.2020)