Gates ist immer wieder im Fokus von Verschwörungstheorien.

Foto: Imago / Ralph Peters

Heute schon an eine Verschwörung geglaubt und den Aluhut abgestaubt? Die Klimalüge nachrecherchiert? Überzeugt davon, dass an allem die Rothschilds schuld sind? Corona: eine Lüge, alle Gefahren des Impfens: von der Pharmaindustrie verschleiert, Politiker: Marionetten der Großindustrie. Eh klar.

Oder doch nicht? Und wieso eigentlich? Und ist alles durch die sozialen Medien noch schlimmer geworden? Was früher am Stammtisch im kleinen Suderantenkreis mitgeraunzt wurde, dem folgen heute digital Abertausende.

Kurz: Das gut geschriebene, flott zu lesende, wissenschaftlich fundierte Buch der Ökonomin und Netzaktivistin Katharina Nocun und der Psychologin Pia Lamberty kommt zur rechten Zeit.

Klugerweise verwerfen sie gleich zu Anfang den Ausdruck "Verschwörungstheorie", handelt es sich doch bestenfalls um Hypothesen, präziser: um ideologisch limitierte Weltsichten. Kurioses Kalkül, dass der Verlag "Verschwörungstheorie" in den Untertitel aufnahm.

Geschlossene Endzeit

Ein wichtiger psychologischer Grund, warum Menschen verschwörungsgläubig bleiben, auch wenn ihnen unleugbare Tatsachen vor Augen geführt werden, die dagegen sprechen, ist das Gefühl der Einzigartigkeit. Als Einziger hat man den Durchblick, durchschaut im Gegensatz zu anderen die Zusammenhänge.

Und wird so besonders. So erhebt man sich über andere. Und gewinnt an Selbstwertgefühl, das einem faktisch entscheidend abgeht. Sozialpsychologisch aufschlussreich ist, dass Konspirationsjünger ihrer "Gemeinde", ihrem "Führer", ihrer "Theorie" treu bleiben, wenn sie sich aufgehoben fühlen. Und wenn sie bereits viel investiert haben, etwa bewusst Kontakte zu Nichtgläubigen abbrachen.

Bezeichnenderweise ist die Anderswelt der Verschwörungsgläubigen sehr oft eine schlechte, eine endzeitliche. Es muss katastrophisch sein. Ihre Weltbilder sind negativ ausstaffiert. Natürlich soll Angst getriggert, sollen Furchtreservoirs angezapft werden. Erst wenn vorher Chaos herrschte, kann eine Struktur herauspräpariert werden.

Bei Verschwörungserzählungen handelt es sich durchweg um rigide Komplexitätsreduktion. Bei einer Konspirationserzählung verschwinden die Farben, alles ist schwarz oder weiß. Verantwortung und Verantwortlichkeit, vorher nebulös, erscheinen nun glasklar.

Zufallskonstellationen, denen man sich schutzlos ausgesetzt fühlte, können rubriziert werden. Machtlosigkeit kann so kompensiert und in Eigenkontrolle umgewendet werden. Die neue Unübersichtlichkeit, von der der Philosoph Jürgen Habermas schon 1985 schrieb, wird zur neuen flachen Eindeutigkeit.

Sündenböcke

Eindeutig auch: Schuld sind immer die anderen. Die, die einen anderen Glauben, ein anderes Geschlecht, eine andere Hautfarbe, andere amouröse Präferenzen haben. Schuld an eigenem Unvermögen wird relegiert.

Das psychologische Signalwort lautet: Entlastung. Sündenböcke lassen sich stets finden, allerorten; und sei es eine noch so marginalisierte Randgruppe, gegen die sich aufgestaute Emotionen richten lassen.

Richtig interessant wird es, wenn Nocun und Lamberty von Versuchsreihen berichten. Etwa jenem Test einen Tag vor den US-Präsidentschaftswahlen 2008, als der Psychologe Daniel Sullivan Menschen befragte, ob sie eine Manipulation der Wahlergebnisse für wahrscheinlich hielten.

Ohne dass die Teilnehmer es wussten, wurden sie in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe erhielt neutrale Fragen. Die zweite hingegen wurde mit einem Duktus konfrontiert, der Kontrollverlust insinuierte und subjektive Unwichtigkeit.

Das Ergebnis war eindeutig: Jene, in denen Gefühle der Machtlosigkeit aktiviert worden waren, neigten viel stärker dazu, den politischen Gegner der bösartigen Manipulation zu beschuldigen. Lehrmaterial also für den Grundkurs "Wie werde ich populistischer Volkstribun in sieben Tagen".

Bestätigungsfehler unseres Gehirns

"Menschen mit ausgeprägter Verschwörungsmentalität", schreiben Nocun und Lamberty, "haben eine stärkere Präferenz für Ordnung und Struktur und fühlen Unbehagen bei Doppeldeutigkeit." Ihre mit diplomatischer Dezenz formulierte Schlussfolgerung: Das ergebe unter Umständen eine engstirnige Sicht auf die Welt.

Sie machen darauf aufmerksam, dass unser Gehirn einen Bestätigungsfehler in sich trägt. Dieser sorgt dafür, dass Informationen als hochwertiger eingestuft werden, die die eigene Weltsicht stützen. Besonders gilt dies für Themen, über die sich bereits starke Meinungen formiert haben und die zudem emotional aufgeladen sind.

Ein Kreislauf der Bestätigung also. Doch auf einer anthropologischen Grundkonstante beharren die Autorinnen ausdauernd, und zwar zu Recht: Eine Veranlagung für Wahrnehmungsverzerrungen trägt tatsächlich jeder Mensch in sich.

Nocun und Lamberty nehmen sich Apokalyptiker, Finanzmythen, Krebsmythen vor, linke und esoterische Mythologeme. Nur das Schlusskapitel mit praktischen Ratschlägen für den Umgang mit Verschwörungsgläubigen fällt ab, wie so häufig der Fall bei analytisch starken Abhandlungen. (Alexander Kluy, 8.8.2020)