Ein knapper Monat in Venedig, das klingt verheißungsvoll – umso mehr in einem Sommer, in dem die Stadt, in der es sonst nur so vor Menschen wimmelt, so historisch leer ist. Es ist die Chance, darüber nachzudenken, wie Venedig ist und wie es vielleicht sein könnte – leerer, insgesamt vernünftiger. Ist die Stadt nun schöner oder trauriger? Es ist Zeit, sich hinzusetzen und die Venezianer, das Wasser, die Tiere zu beobachten.

Auf dem Markusplatz sind weniger Tauben als sonst.
Foto: Nora Reinhardt

Flughafen Marco Polo

Am ersten Samstag im Juli dreht sich am Vormittag nur ein Gepäckband. Ein gelber und zehn dunkle Koffer plumpsen aufs Band, innerhalb von einer Minute haben alle ihre Koffer. Es ist ein ideales, exklusives Reisen – ganz so, als sei man mit dem Privatjet gelandet, denkt man und freut sich. Allerdings nur so lange, bis man feststellt, dass alle Toiletten abgesperrt sind.

Weniger Touristen sowieso: Die berüchtigt teuren Cafés bleiben leer.
Foto: Nora Reinhardt

San Marco

In der Calle Larga XXII Marzo lungern in der zweiten Juliwoche acht Gondolieri vor einem Holzhäuschen herum, auf dem "Service Gondola" steht. Kundschaft ist weit und breit nicht zu sehen; die Gondolieri kicken den Ball hin und her. Es ist schwül. Die meisten Gondolieri, berufsbedingt fit, sind zu träge, um aufzustehen. Bis auf einen schießen sie im Sitzen von ihren Stühlen aus. Es kommen einem Ähnlichkeiten mit dem italienischen Profifußball in den Sinn. Witzchen darüber verbieten sich nach der gescheiterten WM-Quali freilich, sonst war's das mit der Annäherung. Alle tragen schwarze Hosen, Sportschuhe und Ringelshirts.

Die Lagune ist sauber.
Foto: Nora Reinhardt

Es sieht aus, als würde der AC Gondolieri trainieren. Fußballspielen in Venedig? Der Ball rollt weg, einer rennt hinterher – ungestört von Touristen, die hier sonst ihre Nasen an die Scheiben der Luxusgeschäfte pressen. Die Venezianer erobern sich ihre Stadt zurück. Und selbst eine kleine Plauderei entspinnt sich – einfach weil Zeit ist und es zu heiß zum Bolzen ist. Die Wasserqualität sei während des Lockdowns am besten gewesen, erzählt ein Gondoliere, jetzt seien zwar wieder viele Boote unterwegs, das Wasser sei aber immer noch sauberer als sonst.

Ein Traum wird wahr: Nachts ist man bei der Rialto-Brücke ganz allein.
Foto: Nora Reinhardt

Ponte di Rialto

Mittags sind es fünf Touristen, bei Gewitter zwei, nachts ist man auf der Brücke völlig allein. Normalerweise muss man in der Hauptsaison in dritter Reihe warten, um ein Foto zu knipsen. Seit Jahren träumten venezianische Politiker und Bürger – mal heimlich, mal unverhohlen – davon, eine leere oder zumindest eine leerere Stadt zu haben. Verständlich, kommen doch auf jeden Venezianer, der noch im Zentrum wohnt, rund 500 Touristen pro Jahr. Nun ist es so weit: Es fehlen die Chinesen, Japaner und Amerikaner; all jene Nichteuropäer, die einen bedeutenden Teil des Tourismus ausmachen. Venetien ist Italiens Region mit den meisten Übernachtungen im Jahr – mehr als 71 Millionen waren es 2019, zwei Millionen mehr als 2018. Inzwischen dürfte man aus Japan sogar wieder einreisen, aber es ist eine fragile Erlaubnis; und Fernreisen sind nicht spontan.

Das rote Team bei der Siegerehrung nach der Gondelregatta.
Foto: Nora Reinhardt

Accademia

Eine Studentin trägt einen Jutebeutel, auf den ein Kreuzfahrtschiff gemalt ist. "Fuori da Venezia", sinngemäß "vor die Tore Venedigs", steht darauf. Eine Tasche aus einer vergangenen Zeit, denn das wurde längst beschlossen. Und nicht einmal dort sind die Kreuzfahrtschiffe momentan, weil das Anlegen in Italien verboten wurde. Kurz, Venedig ist kreuzfahrtschifffrei. Es sieht so aus, als müsse man sich erst auf neue Ziele einigen. Die Sonnenuntergänge sind jetzt einfacher zu sehen, weil keine hochhaushohen Schiffe die Sicht versperren.

Es sind kaum Boote unterwegs.
Foto: Nora Reinhardt

Il Redentore

Der Tag, an dem die Touristen zurückkommen, kann genau beziffert werden: der 17. Juli 2020. Das Erlöserfest Redentore, das zweitwichtigste Fest nach Karneval, wird gefeiert. Eine Gondelregatta findet statt, und Schiffe mit Bands musizieren auf dem Giudecca-Kanal. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass man das Fest begeht, weil eine Epidemie erfolgreich überstanden wurde (die Pest 1575–1577), Venedig die aktuelle Pandemie aber noch nicht erfolgreich überstanden hat, weswegen dieses Jahr das Feuerwerk ausfällt. Immerhin, die Stadt wird wieder diverser: Die indischen Rosenverkäufer und afrikanischen Händler sind zurück.

Das Erlöserfest "Il Redentore" lockt immerhin zahlreiche Schaulustige an.
Foto: Nora Reinhardt

Rio de la Toletta

"Die Küche ist schon geschlossen", tönt es einem entgegen, sobald es nach 21.30 Uhr ist. Sparbetrieb. Egal wo. Wann Harry's Bar geöffnet hat, ist undurchschaubar, im Algiubagio ist am Mittwoch die Küche komplett geschlossen, man bekommt gerade noch zwei grüne Oliven, an der Taverna La Fenice steht am Montag Mitte Juli auf einem Zettel "Ci vediamo domani", bis morgen. Restaurants haben ihre Öffnungszeiten vor allem aufs Wochenende verlagert, auch die meisten Museen sind unter der Woche zu. Das verleiht der Stadt ein noch kleinstädtischeres Flair als sonst. Und wohin, wenn man nach 22 Uhr Hunger bekommt? Der Imbiss Pizza Kebab Toletta hat bis 2 Uhr offen. Anders gesagt: Zwischen 22 und 2 Uhr gibt es dort die beste Pizza der Stadt.

Leere Kanäle, beinahe menschenleere Plätze ...
Foto: Nora Reinhardt

Murano

In Murano, der Glasbläser-Insel, sind nur vormittags die Öfen an. Nachmittags ist die Insel ausgestorben. Die Touristen sind schon wieder weg, die Bewohner bleiben bei der Hitze zu Hause.

Rio San Trovaso

Die Nachricht von der besseren Wasserqualität in Venedig ging um die Welt. Überall sieht man nun Fische und Krebse in den Kanälen. Zwei Venezianer sichteten im April sogar einen Kraken. (Der Delfin war, seufz, eine Falschmeldung!) Frühabends trifft man sich am Rio San zum Aperitivo, um "Cicchetti" mit "Ombre" – die typischen belegten Baguettescheiben mit einem Schluck Wein – zu verzehren. Es ist ein stiller, traditionsreicher Ort, vielleicht sogar der schönste in Venedig. Denn auf einer Uferseite steht die Gondelwerft Al Squero aus dem 17. Jahrhundert. Der Rio ist sauber, die Farbe ein trauriges Türkis, als habe man Olivgrün mit Hellblau gemischt. Man weiß, man gehört dazu, wenn einem der freundliche Langhaarige hinterm Tresen "A domani" mit auf den Weg gibt und nicht mehr "Beware of the seagulls". Denn normalerweise stibitzen die Möwen die Cicchetti im Flug von den Papptellern.

... nur langsam kommt wieder Leben in die Lagunenstadt.
Foto: Nora Reinhardt

Auf einmal kracht es laut. So, als sei jemand auf eine Sonnenbrille gestiegen. Keine Sonnenbrille, ein Tier. Eine Möwe hat einen Krebs quer im gelben Schnabel. Das Knacken: Schnabel auf Krebspanzer. Der Krebs zappelt noch, ein zweites Krachen, er zappelt nicht mehr. Die Möwe schluckt den Krebs im Ganzen herunter. Ein beeindruckendes Schauspiel, das die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf sich zieht. Ja, endlich gibt es wieder Wildlife in Venedig; man hat es sich nur friedlicher vorgestellt. Venedigs Möwen haben ihre Ernährung umgestellt: von Cicchetti auf frisches Krebsfleisch.

Campo Santa Margharite

Venedig hatte immer ein gefühltes Kastensystem: Hier die echten Venezianer in der obersten Kaste, dort die Touristen in der untersten, irgendwo dazwischen die Kellner und Köche, die aus Padua oder Mestre pendeln. Nähern sich Reisende und Venezianer in dieser Ausnahmezeit vielleicht endlich an?

Ein Schwätzchen mit den Carabinieri geht sich immer aus.
Foto: Nora Reinhardt

Ein normaler Mittwochabend Ende Juli auf der Brücke zum Campo San Pantalon, von der man das Graffiti von Banksy sieht. Hier sitzen 50 junge Menschen dicht an dicht, trinken, einer hat eine Gitarre dabei und spielt Songs, die alle mitsingen. "Rape me" von Nirvana klingt über den Platz, direkt daneben steht ein Automat, an dem man Kondome und Schwangerschaftstests ziehen kann. Eine Maske trägt niemand. Die Brücke ist einer der wenigen Orte, an denen die Stadt lebt und sich Venezianer treffen, die angeheitert sind und mit denen es dementsprechend einfach ist zu plaudern. Es bleibt schwierig, sich mit Venezianern anzufreunden, aber es gibt jetzt Hoffnung.

Piazza San Marco

Das Caffè Florian am Markusplatz ist das teuerste Kaffeehaus der Stadt, vielleicht sogar des Landes. Es ist für sein Kammerorchester berühmt, das im Sommer auf dem Platz klassische Musik spielt, und für den 14,50-Euro-Cappuccino berüchtigt. Die zwei Brüder Dario und Daniel haben sich vor der Corona-Krise den Job als Violinist geteilt: Einer geigte in der ersten Tageshälfte, der andere in der zweiten. Und was hören die Touristen gern? "Rosamunde", antwortet Daniel. "Die Deutschen lieben die Polkas, überhaupt dumme Lieder. Dann gehen sie glücklich nach Hause." Er geigte schon acht Monate ohne einen freien Tag, je siebeneinhalb Stunden pro Tag. Bis das Café vorübergehend wegen Corona schließen musste. Die Zahl der Musiker, die das noble Kaffeehaus beschäftigt, wurde von zehn auf fünf geschrumpft. So zumindest erzählt es einer, der es wissen muss.

In der größten Hitze bleiben die Venezianer sowieso drinnen.
Foto: Nora Reinhardt

Für Dario und Daniel bedeutete das: Nur ein Bruder konnte bleiben. Dario steht nun weiterhin in weißem Hemd, roter Fliege und schwarzer Anzughose neben dem gelangweilten Pianisten am Flügel und dem fidelen Kontrabassisten und geigt. Er spielt so halbherzig für die Handvoll Gäste an diesem Montagmittag Ende Juli, als sei er auf einer Probe und warte darauf, dass der Dirigent endlich auftaucht.

Beobachtet man die zusammengeschrumpfte Truppe, die nun offenbar länger als sonst eh schon spielen muss, ahnt man: Venedig ist hier trauriger als zuvor. Daniel musste nach sieben Jahren in dem 300 Jahre alten Traditionshaus aufhören. Er arbeitet jetzt als Kellner im Restaurant eines Freundes in Padua, erzählt er. "Einfacher" sei das, sagt der 37-Jährige. Mehr Freizeit, keine Polkas. Und hat der bessere Violinist gewonnen? "Eigentlich spielt unsere Schwester am besten", antwortet der unterlegene Bruder, aber die sei reich und müsse sich nicht als Violinistin verdingen. Dass man Musiker nach der Corona-Krise entlassen musste, will man im stolzen Caffè Florian natürlich nicht zugeben. Auffallen tut es auf den ersten Blick auch nicht. Daniel und Dario sind Zwillingsbrüder.

Zattere

Der Ticketstand eines Linienschiffbetreibers auf einem Ponton an der Promenade ist wegen fehlender Kundschaft seit Wochen nicht mehr besetzt. Der Stuhl? Wurde kopfüber mit einem Fahrradschloss an die Brüstung geschnallt. Wenn es schnell gehen muss, kann er in Sekunden abgekettet werden. Er kann aber auch noch ein paar Monate vor sich hinbaumeln. Ein schönes Symbol für die Hängepartie. Auch in Italien weiß man: Nichts hält länger als ein Provisorium.

Dorsoduro

Die ersten Juliwochen sind fast ausschließlich weiße, europäisch aussehende Menschen in der Stadt. Normalerweise gehen die Venezianer, die nicht gerade arbeiten, auf der Straße in der Masse unter. Aber jetzt werden sie sichtbarer. Woran man sie erkennt? Echte Venezianer telefonieren beim Gehen. Echte Venezianer tragen auch bei der größten Hitze lange Beinkleider. Venezianer sitzen drinnen oder trinken den Kaffee im Stehen. Echte Venezianer haben Hunde und Boote, meistens beides, oft kombiniert: Hunde auf Booten. (Nora Reinhardt, 9.8.2020)

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