Aus der Lombardei breitete sich das Coronavirus in ganz Europa aus. In Bergamo wütete die Krankheit besonders stark. Auf dem Bild: eine Liebeserklärung an die bis heute gezeichnete Stadt.

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"Noi denunciamo", eine Vereinigung von Angehörigen, klagt an.

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Giovanni Ceresoli hat dem Horror in die Augen geblickt: Der 67-Jährige wohnt unweit des Friedhofs von Bergamo. Er hat im März die Kolonnen der Militärwagen, die die Särge der Toten abtransportierten, unter seinem Wohnzimmerfenster vorbeifahren gesehen. "Die Szene hatte etwas wahrhaft Unwirkliches. Ich fühlte mich wie in einer Luftblase, aus der ich nicht blicken wollte", erzählt Ceresoli heute. "Ich wollte nicht mehr sehen, was draußen passiert. Weil das, was man draußen sah, war einfach zu schrecklich."

Er litt zu dieser Zeit ebenfalls an Covid-19: Zehn Tage lang hatte er 38 Grad, Fieber und Husten. Einen Arzt hat Ceresoli während der ganzen Epidemie nie zu Gesicht bekommen: Sein Hausarzt sagte ihm am Telefon, er solle ruhig bleiben und sich, so gut es eben gehe, von seiner Frau fernhalten. Die Symptome der Krankheit verschwanden dann allmählich von selbst. Auch Bergamo ist inzwischen vom Virus genesen, zumindest fast: Die Zahl der täglichen Neuansteckungen lässt sich an einer Hand abzählen.

Im Spital Papst Johannes XXIII., dem drittgrößten der Lombardei, der am stärksten vom Coronavirus betroffenen italienischen Region, wurde bereits am 7. Juli der letzte Covid-19-Patient aus der Intensivstation entlassen. Das Krankenhaus von Bergamo war während Wochen Italiens "Schützengraben im Krieg gegen das Coronavirus": Dort wurden bis zu 500 Patienten gleichzeitig behandelt. Auf der Intensivstation lag der Verbrauch an Sauerstoff bei 8600 Litern pro Stunde.

Das Virus ist nun vorerst unter Kontrolle – aber die Angst ist geblieben. Das spürt und sieht man bei einem Rundgang durch die Città Alta, die auf einem Hügel thronende mittelalterliche Altstadt von Bergamo: Obwohl in der ersten Augustwoche eigentlich längst Hochsaison wäre, sind die Restaurants und Trattorien der zentralen Piazza Vecchia halbleer. Die unzähligen Läden an der Hauptgasse, der Via Bartolomeo Colleoni, haben zwar geöffnet, aber es herrscht kaum Betrieb.

Sirenen und Totenglocken

Die meisten der Einheimischen tragen auch im Freien noch Atemmasken, obwohl dies nicht vorgeschrieben wäre. "Es fehlen die Touristen. Aber auch viele Einheimische gehen kaum aus dem Haus. Es ist eine psychologische Blockade, der Schock sitzt einfach noch zu tief", sagt die 42-jährige Lucy. Die Inhaberin einer Modeboutique ist selbst noch traumatisiert: "Ich hatte während des Lockdowns große Angst, ich saß zu Hause und weinte."

Wer das Drama nicht selbst erlebt habe, könne das vielleicht nicht verstehen. Die Stadt war leer, in den Straßen fuhren nur noch Leichenwagen und Ambulanzen. "Ununterbrochen heulten deren Sirenen." Die wurden aus Rücksicht auf die Anwohner irgendwann nicht mehr benützt. "Und dann hörte man nur noch die Totenglocken", sagt Lucy.

Keine andere Stadt der Welt wurde von Covid-19 so brutal heimgesucht wie Bergamo: Wochenlang galt die Stadt als das "Wuhan Europas". Allein zwischen dem Ausbruch der Epidemie Ende Februar bis zum 31. März sind in der dichtbesiedelten Provinz Bergamo mit ihren 1,1 Millionen Einwohnern 6238 Personen gestorben, davon 670 in der Stadt Bergamo. In normalen Jahren sterben in der Provinz im gleichen Zeitraum knapp 1200 Personen.

Auf dem Höhepunkt der Epidemie hatte sich die Sterblichkeit demnach versechsfacht. Selbst in anderen stark von der Epidemie betroffenen italienischen Städten wie Cremona, Lodi, Brescia und Piacenza lag die Sterblichkeit deutlich tiefer. Die hohe Zahl von Covid-19-Toten hat in Bergamo und den umliegenden Ortschaften nicht nur Angst und Trauer, sondern auch Wut ausgelöst. Warum, fragen sich die Bergamasker, haben die Behörden der Provinz nicht sofort reagiert, obwohl hier die Zahl der Neuinfektionen und der Todesopfer schon Ende Februar zum Teil höher lag als in anderen Regionen, die zum Sperrgebiet erklärt worden waren?

Angehörige wollen Antworten

Diese Frage stellten sich auch Luca Fusco und sein Sohn Stefano, nachdem Lucas Vater Anfang März an Covid-19 gestorben war. Sie haben eine Vereinigung von Angehörigen gegründet, die sich "Noi denunciamo" nennt: Wir klagen an. "Wir wollen die Wahrheit wissen, denn sobald wir die haben, können wir das System ändern, das nicht funktioniert hat." Der Vorwurf von Luca und Stefano Fusco: Die Behörden hätten die Angelegenheit nicht ernst genug genommen, obwohl sich schon im Jänner und Februar in den Spitälern der Provinz die Fälle von "anormalen" Lungenentzündungen gehäuft hätten.

Und selbst nachdem das Virus in der Lombardei erstmals nachgewiesen wurde, seien insbesondere in den nahe liegenden Spitälern von Nembro und Alzano nicht einmal die elementarsten Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. Diese Krankenhäuser seien in der Folge zu Brandbeschleunigern der Epidemie geworden, wo sich sowohl Patienten als auch das medizinische Personal mit dem Virus infiziert hätten.

Der Gruppe haben sich in ganz Italien schon 66.000 Personen angeschlossen. Ihre Anwältin Consuelo Locati hat bei der Staatsanwaltschaft von Bergamo 50 Klagen eingereicht, weitere 250 sollen noch folgen. Auch Anwältin Locati hat ihren Vater während der Epidemie verloren. Die Sammelklage erfolge nicht, um Geld zu erhalten oder um Vergeltung zu üben, sagt sie: "Wir wollen lediglich Gerechtigkeit. Die Regionalregierung der Lombardei hat nach unseren Erkenntnissen eine große Verantwortung an der Tragödie." So hätte sie etwa die Möglichkeit gehabt, die Provinz zum Sperrgebiet zu erklären.

Hohe "Durchseuchung"

Fest steht, dass sich das Virus in Norditalien und insbesondere in der Provinz Bergamo im Jänner und im Februar unbemerkt und rasend schnell ausbreiten konnte. "Und als das Virus endlich entdeckt wurde, war es zu spät", sagt Bergamos sozialdemokratischer Bürgermeister Giorgio Gori. Ein in ganz Italien durchgeführter, repräsentativer Antikörpertest, dessen Resultate in dieser Woche veröffentlicht wurden, belegt die weit überdurchschnittliche "Durchseuchung" der Provinz: In Bergamo wurden bei 24 Prozent der getesteten Personen Antikörper gegen das Coronavirus nachgewiesen. In der Lombardei dagegen nur bei 7,5 Prozent der Bevölkerung und im nationalen Durchschnitt Italiens bei 2,5 Prozent.

Bürgermeister Gori räumt ein, dass auch er die Gefahr zu Beginn unterschätzt habe. "Wir waren alle davon überzeugt, dass die Epidemie innerhalb von wenigen Wochen vorübergehe, ohne unser Leben derart zu erschüttern." Er selbst habe ganz sicher auch Fehler gemacht, und das tue ihm leid, beteuert er: Bars und Restaurants seien zu lange geöffnet geblieben. In der Provinz Bergamo haben aber auch andere Fehler begangen: So hatte sich der lokale Unternehmerverein wochenlang gegen die Einrichtung einer roten Zone gewehrt. 376 Unternehmen mit Zehntausenden von Arbeitsplätzen und einem Jahresumsatz von 850 Millionen Euro wären betroffen gewesen.

Positive Entwicklungen

Die Corona-Epidemie hat in Bergamo aber auch positive Energien geweckt. Pietro Bailo, Präsident eines lokalen Kulturvereins, hat gleich zu Beginn des Lockdowns 250 Freiwillige zusammengetrommelt, die für alte und vorerkrankte Mitbürger, die ihre Häuser nicht mehr verlassen konnten, die Einkäufe erledigten. Später begann die Gruppe, vor Spitälern, Altersheimen, unter den Fenstern der Alten und Kranken kleine Konzerte und Theateraufführungen zu organisieren.

"Wir gingen in die Viertel, von denen wir wussten, dass dort besonders viele einsame ältere Menschen wohnen", erzählt der 29-jährige Bailo. Das machen sie auch noch heute, zwei Monate nach dem Ende des Lockdowns: Sie probierten neue Formen des Zusammenlebens aus. Und all das, sagt Bailo, "wäre nicht möglich gewesen ohne die Covid-19-Tragödie". (Dominik Straub aus Bergamo, 9.8.2020)