Im Gastkommentar blicken die Professoren Mitchell A. Orenstein und Waleri Jakubowitsch auf den belarussischen Wahlkampf zurück. Drei Frauen setzten sich an die Spitze der Revolte, "um das Land aus dem Würgegriff eines Diktators zu befreien".

Alexander Lukaschenko, seit 1994 erster und einziger Präsident von Belarus, behauptet, er liebe die Frauen. Aber wie die meisten konservativen Diktatoren im ehemaligen Ostblock glaubt er, sie hätten eine bestimmte Rolle in der Gesellschaft zu spielen, nämlich als Mütter oder gutaussehende Partybegleitungen. Doch bei den Wahlen am 9. August könnte der für eine sechste Amtszeit in Folge werbende Lukaschenko feststellen, dass er die belarussischen Frauen unterschätzt hat, von denen ihm gleich drei seinen Posten streitig machen wollen.

Ebenso wie US-Präsident Donald Trump macht auch Lukaschenko kein Hehl aus seiner Vorliebe für attraktive Frauen, von denen er glaubt, er könne sie ungestraft behandeln wie er will oder nach Gutdünken begünstigen. Nachdem man ihn mit einer ehemaligen belarussischen Miss-World-Kandidatin auf dem Staatsball tanzen gesehen hatte, bekam diese einen Sitz im belarussischen Scheinparlament. Nach der #MeToo-Bewegung, Lukaschenkos fürchterlichem Management im Hinblick auf die Eindämmung von Covid-19, nach einem Jahrzehnt wirtschaftlicher Stagnation und der Inhaftierung oder dem Ausschluss von drei Präsidentschaftskandidaten traten aber Frauen auf den Plan, um an der Spitze der diesjährigen Revolte zu stehen.

Pantoffelprotest

Irgendjemand musste es tun. Seit 1994 beginnt das Spektakel der alle fünf Jahre stattfindenden Präsidentschaftswahlen in Belarus stets mit der Hoffnung auf einen Wandel, um dann mit der Inhaftierung von Oppositionskandidaten und der Wiederwahl Lukaschenkos mit großer Mehrheit zu enden. Heuer führte der Blogger Sjarhej Zichanouski die Opposition auf kreative Weise an. Er reiste in wirtschaftlich schwache Gebiete, um dort Menschen zu befragen und er entwarf ein Anti-Establishment-Programm unter dem Motto "Stoppt die Kakerlake!" Sein Wahlkampfsymbol – ein riesiger Pantoffel, mit dem Insekten zerquetscht werden – wurde zum Oppositionsmeme des Jahres. Da die meisten Formen des politischen Protests verboten sind, brachten tausende Menschen Pantoffel zu den Straßenprotesten mit und schwenkten diese in bedrohlicher Manier.

Lukaschenko, der keinen Spaß versteht, ließ Zichanouski einsperren und verweigerte ihm die Erlaubnis, Unterschriften für seine Kandidatur zu sammeln. Aus diesem Grund brachte sich seine Frau Swjatlana Zichanouskaja ins Spiel. Zichanouskaja, Hausfrau und ausgebildete Englischlehrerin ohne politische Erfahrung, sammelte die erforderlichen 100.000 Unterschriften und wurde am 14. Juli offizielle Präsidentschaftskandidatin.

Geringes Risiko

Lukaschenko dachte wohl, Zichanouskaja als Kandidatin zuzulassen, wäre mit nur geringem Risiko verbunden. Bei früheren Gelegenheiten hatte er schon erklärt, warum keine Frau Präsidentin werden könne: "Unsere Verfassung ist so beschaffen, dass selbst ein Mann die Last [des Amtes] kaum tragen kann. Bürdete man sie einer Frau auf, würde das arme Mädchen zusammenbrechen."

Freilich kann auch kein anderer Mann Präsident werden, selbst wenn er aus Lukaschenkos eigenem Establishment stammt wie zwei andere Kandidaten: Viktor Babariko, früherer Vorstand einer Großbank, und Waleri Zepkalo, ehemaliger stellvertretender Außenminister und Botschafter in den Vereinigten Staaten. Als sich Menschen stundenlang anstellten, um ihre Unterstützungsunterschriften für diese Kandidaten abzugeben, wurde Babariko wegen plötzlich aufgedeckter Straftaten inhaftiert und Zepkalos hunderttausende gesammelte Unterschriften wurden als Fälschungen eingestuft. Nachdem er drei Spitzenkandidaten aus dem Feld geworfen hatte, dachte Lukaschenko, die Wahlen praktisch unter Dach und Fach zu haben.

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Drei Herausforderinnen: Zepkalo, Zichanouskaja, Babariko.
Foto: Reuters / Vasily Fedosenko

Mit Faust, Herz und "V"

Doch im Rahmen einer bemerkenswerten gemeinsamen Pressekonferenz am 16. Juli stellten sich die Kampagnen von Babariko und Zepkalo hinter Zichanouskaja, wobei alle drei Teams durch Frauen vertreten waren, die ihre Wahlkampfsymbole präsentierten: eine erhobene Faust für Zichanouskaja, ein Herz für Babarikos Wahlkampfleiterin Maria Kolesnikowa und ein für Sieg stehendes "V" für Zepkalos Ehefrau Veronika. Mit dieser Vereinigung erreichte das Trio, was nur wenigen Oppositionspolitikern in der kurzen Geschichte Belarus‘ gelang. Ihr Programm: die Freilassung aller politischen Gefangenen, die Wiederherstellung des Rechtsstaates und die rasche Organisation erneuter, fairer Präsidentschaftswahlen. Unter dem neuen Slogan "Wir lieben, wir können, wir werden gewinnen" setzen sie ihren gemeinsamen Wahlkampf fort, der tausende von begeisterten Wählern auch in abgelegenen Städten anzieht.

Unter ständiger Androhung offizieller Gewalt und angesichts inhaftierter, von möglicher Folter bedrohter Ehemänner sowie Kinder, die ihnen abgenommen und in staatliche Obhut gegeben werden könnten, haben sich Zichanouskaja, Kolesnikowa und Zepkalo auf kreative, kraftvolle und – zu Lukaschenkos Bestürzung – völlig legale Improvisationen verlegt. Eine der jüngsten Zusammenkünfte fand in Form einer langen Schlange (mit sozialer Distanzierung) statt, als die Menschen darauf warteten, eine schriftliche Beschwerde bei der zentralen Wahlkommission einzureichen. Die Frauen warben auch für einen weltweiten Hackathon zur Entwicklung neuer digitaler Instrumente zur Überwachung von Wahlbetrug – einer der Exportschlager von Belarus sind hochqualifizierte Computerprogrammierer. Sieger dieses Bewerbes ist eine digitale Plattform, die es den Wählern ermöglicht, ein Foto ihres Stimmzettels für eine unabhängige Auszählung hochzuladen. Um ihre Mitwirkung zu demonstrieren, werden die Unterstützer gebeten, bei der Stimmabgabe ein weißes Armband zu tragen.

Belarussische Jeanne d'Arc

Zichanouskaja wandelt sich von einer bescheidenen Hausfrau in eine belarussische Jeanne d'Arc, wie einige lokale Medien sie nennen. Nun, da ihre und Zepkalos Kinder im Ausland sicher sind, erklärte Zichanouskaja ihren Entschluss, ihren Mann und ihr Land aus dem Würgegriff eines Diktators zu befreien. "Niemand kann eine Frau aufhalten, die eine Familie verteidigt, ebenso wie niemand eine Frau aufhalten kann, die Gerechtigkeit fordert", sagt sie. Ihre Chancen stehen nach wie vor nicht gut, aber unabhängig vom Ausgang der Wahl ist bereits jetzt klar, dass Lukaschenko die belarussischen Frauen auf eigene Gefahr unterschätzt hat. (Mitchell A. Orenstein, Waleri Jakubowitsch, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 9.8.2020)