Kein Flamingo, sondern ein kantiger Turm aus Cortenstahl und Beton: Vom Tiroler Steinbockzentrum der Arge Köberl Kröss führt ein Steg ins Außengelände, die Fassade übernimmt den Fußabdruck des hölzernen Stadels, der hier ursprünglich stand.

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Das Naturparkhaus Längenfeld von Hanno Schlögl.

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Die Geschichte des Steinbocks war im Alpenraum eigentlich schon so gut wie auserzählt. Man hatte nicht nur wegen Fleisch und Fell, sondern auch wegen seiner als Heilmittel und Aphrodisiakum gepriesenen Hörner so intensiv nach ihm gejagt, dass er Anfang des 19. Jahrhunderts als ausgerottet galt. Nur im Gebiet des Gran Paradiso in Norditalien hatten einige Exemplare überlebt und wurden dort von Italiens König Viktor Emanuel II. eifersüchtig gegen Begehrlichkeiten von außen geschützt. Weshalb die Schweizer zwecks Wiederansiedlung zu abenteuerlichen Methoden griffen und Wilderer anheuerten, die einige Kitze über die Grenze schmuggeln sollten. Die Mission war erfolgreich. Die ersten Steinböcke, die Anfang der 1950er-Jahre – diesmal auf offiziellem Weg – zurück ins Tiroler Pitztal gelangten, stammten aus dem Engadin. Heute lebt im Pitztal und im benachbarten Kaunertal die größte Alpensteinbock-Population der Ostalpen.

Rüstige Damen, alte Böcke

Drei rüstige Damen aus St. Leonhard zeigen wohl auch deshalb nicht ohne Stolz dorthin, wo sich im Frühjahr gern die alten Böcke sonnen: Es ist ein Steilhang über der Ortschaft im hinteren Pitztal. Die Blicke der Einheimischen schweifen jetzt aber öfter auf die andere Talseite, wo sich auf einer Anhöhe ein markanter roter Turm erhebt. "Haus am Schrofen" haben Daniela Kröss und Rainer Köberl ihren Entwurf für das im Juli eröffnete Tiroler Steinbockzentrum getauft – eine Referenz auf Flurnamen und historischen Bestand, aber auch pures Understatement: Denn vom Talboden aus betrachtet präsentiert sich dieses Haus eher als kantige Burg, die sich je nach Perspektive auch in einen Fels in der Landschaft verwandeln kann.

Dass ihr Vorschlag für das als Natur- und Kulturgeschichtsmuseum konzipierte Gebäude etwas mit dem Charakter des Tieres zu tun haben sollte, dem es gewidmet ist, lag für die Architekten auf der Hand. "Ein Steinbock ist kein Flamingo", so Köberl, leicht und luftig war also keine Option. Stattdessen setzten sie einen selbstbewussten Kontrapunkt zum benachbarten, 700 Jahre alten Schrofen-Hof, ohne diesen erschlagen zu wollen.

Wofür sich die Idee, "nicht in die Fläche zu gehen" (Kröss), sondern einen Turm aus dem Hang wachsen zu lassen, als die richtige erwiesen hat. Auf dem zur Verfügung stehenden Bauplatz stand einst ein zum Hof gehöriger hölzerner Stadel, seinen Fußabdruck wollten die Architekten aufnehmen, indem sie mit zum Teil mit Bretterstruktur versehenen Betonteilen seine einstige Dimension sichtbar machten.

Ein Steg ins Gelände

Apropos Beton: Ein Thema, das vor allem seitens der Gemeinde zunächst skeptisch betrachtet wurde. Die schließlich von allen Seiten goutierte rötliche Färbung orientiert sich am eisenoxydhaltigen Gestein der Gegend, das um die Aussichtsterrasse gelegte Band aus Cortenstahl zieht sich als Steg elegant ins Gelände hinunter, von wo aus das angeschlossene Steinbockgehege erreichbar ist. Die Wegführung, sagt Kröss, war wichtiger Bestandteil des Projekts, schließlich sollte sich die Ausstellung fließend vom Inneren nach außen fortsetzen.

In der in den Hang versenkten ersten Ebene des Turms befindet sich die Gastronomie mit Zirbenstube und Außenterrasse, darüber der Eingangsbereich und zwei Ausstellungsebenen, die auch Kulturgeschichtliches zu bieten haben: Wesentliche Beiträge lieferte der Fotograf und Sammler Willi Pechtl, der auch die Geschichte zweier Pitztaler Schwestern dokumentiert hat, die um die Jahrhundertwende als Wanderfotografinnen in ganz Europa herumgekommen sind.

Hoffnung auf Touristen

Ein schartenartiges, quadratisches Fenster öffnet sich zum Wildgehege, das rund 450 Quadratmeter umfassende Innere haben die Architekten mit geschliffenem Estrich und freiliegenden Lüftungsrohren reduziert gehalten und die Räume mit Eichen-Vitrinen und interaktiven Tischen möbliert.

3,7 Millionen Euro hat der Bau gekostet, es handelt sich dabei auch um ein touristisches Hoffnungsprojekt. Das Pitztal gilt als strukturschwache Region, die mächtigen Tiroler Seilbahner sehen die Zukunft im Zusammenschluss des hiesigen Gletscherskigebiets mit dem des angrenzenden Ötztals. Umweltschützer protestieren dagegen heftig.

Gleichzeitig ist St. Leonhard eine von neun Naturparkgemeinden, die unter dem Dach des Naturparkvereins Kaunergrat auch andere Weg gehen wollen. Für dessen Geschäftsführer Ernst Partl ist das Projekt in St. Leonhard der "erste Meilenstein eines Gesamtkonzepts, das auf Identitätsstiftung, Nachhaltigkeit und sanften Tourismus setzt". Dass die gestalterische Devise laut Partl, der auch in der Jury des geladenen Wettbewerbs saß, zunächst "ja nicht auffallen" hieß, sieht man heute glücklicherweise nicht mehr.

Alternativ und originär

Viel eher ist längst auch in anderen Tiroler Naturparkgemeinden beobachtbar, dass sich alternative Tourismuskonzepte ganz gut mit der Frage vertragen, was gutes Bauen in den Alpen jenseits kommerzieller Eventarchitektur bedeuten kann. Beantwortet wird sie etwa mit architektonischen Implantaten in die Natur- und Kulturlandschaft, wie sie das bereits 2009 eröffnete Naturparkhaus von Noldin & Noldin im Alpenpark Karwendel-Hinterriß darstellt.

Oder mit dem erst 2019 eröffneten Naturparkhaus im Ötztaler Längenfeld von Hanno Schlögl, der eine lang gestreckte Skulptur an einen Steinschlagschutzdamm geschmiegt hat. Auch hier spielt der speziell bearbeitete Sichtbeton mit Bezügen zu Fels und Holz, auf dem Pultdach wachsen Bienenweiden, darunter sprudelt aus einer streng geometrischen gestalteten Scharte ein Wasserfall. Am aufregendsten sind die sich vorderseitig zueinander verhaltenden Elemente von leicht nach hinten gekippter Fassade und einer im rechten Winkel dazu gesetzten, mit Schlitzen versehenen Betonwand, die zugleich den herausragenden Eingangsbereich abschließt.

Die neue Burg des Pitztals

Im Gegensatz zu dem vom Massentourismus längst durchdrungenen Ötztal erscheinen im Pitztal mit seinen zum Teil fast aus der Zeit gefallen wirkenden Beherbergungsbetrieben, die "Haus Rosi" oder ganz verwegen "Pension Inter Alpen" heißen, alternative Wege im Tourismus noch wahrscheinlicher. Den Diskussionen um Megaprojekte wie dem Gletscher-Zusammenschluss durchaus zum Trotz. Angesichts des Steinbockzentrums in St. Leonard könnte man fast meinen, dass im Gefolge des aus der Schweiz importierten Steinwilds mit etwas Verspätung auch ein Stück Baukultur aus Graubünden nach Tirol herübergeschwappt ist. Wobei die "neue Burg des Pitztals", wie sie Architekten auch nennen, ein ziemlich originäres Stück Architektur darstellt.

Ein paar Kilometer talauswärts, nämlich in Wenns, hat Rainer Köberl übrigens vor Jahren einen M-Preis-Supermarkt hingestellt, der 2003 prompt für den Mies-van-der-Rohe-Award nominiert wurde. Womöglich wird das Pitztal künftig ja noch zum Reiseziel für Architekturliebhaber. (Ivona Jelcic, 9.8.2020)