Grinst freundlich, kann sich aber auch vor der Todessehnsucht verneigen: Andris Nelsons

Foto: Marco Borggreve

Die kleine Trommel gibt den Rhythmus vor. Im Gleichschritt folgen die Massen dem Rattenfänger, scheinen sich freiwillig in den Abgrund zu stürzen: Die Philharmoniker und Andris Nelsons haben den Todesmarsch von Gustav Mahlers Sechster grandios auf einem unerbittlichen Grundschlag abrollen lassen. Das Gespann schwelgte im Salzburger Großen Festspielhaus in Klangrausch und Todessehnsucht, ohne die dazugehörigen Klischees zu bedienen.

Die vier Sätze schlagen in diesem Werk ja einen einzigen Bogen. Brutale Gewalt im Marschtritt weicht im Scherzo zwar dem lieblichen Tanz sich drehender Figürchen auf einer Spieluhr. Eh lieb. Nur wissen wir, dass kreiselnde Dirndlröcke beim Ländler auf dem Dorfplatz gern auch mal physische und psychische Gewalt hinter dem Idyll verschleiern. Und das traumschöne Mahler’sche Andante macht die "Ahnungen" des Werks ja eigentlich nur noch eindringlicher.

Chancenlose Kuhglocken

Zu erleben ist ein emotionales Wechselbad: Stupende Ausritte in den grandiosen Bläsersoli wirkten wie Versuche einzelner, dem Massenwahn mit Individualität zu begegnen. Die Kuhglocken wiederum, in der Sechsten von nah und fern Idyllen beschwörend, haben keine Chance. Klangschön – aus dem Pianissimo heraus – ließen Orchester und Dirigent aber immer wieder Hoffnung blühen, während die legendären Schläge mit dem überdimensionalen Holzhammer im Finale verstörend brutal waren. Chapeau vor Paukisten und Schlagzeugern!

Ist jene über der klassisch viersätzigen Sechsten (geschrieben zwischen 1903 und 1904) liegende Düsternis nun visionär? Wollte Gustav Mahler mit ihr kommende Weltkriegskatastrophen vorausahnen? Oder wollte er mit wüsten Hammerschlägen die Grenzen einer Tonsprache niederreißen, die erst seine ungefähren Zeitgenossen Schönberg, Berg und Webern überwinden konnten? Darüber lässt sich nach wie vor gut diskutieren.

Die zielstrebig Richtung Abgrund steuernde Lesart von Andris Nelsons war jedenfalls zugleich Verneigung vor der Todessehnsucht und deren Verneinung. (Heidemarie Klabacher, 9.8.2020)