Der Lockdown war schuld am Weltrekord. Den Frühsommer 2020 wollte Ralph Diseviscourt irgendwo zwischen Ural und Baikalsee verbringen, Hauptsache in Sibirien. Der 44-jährige Luxemburger ist keineswegs Alpinist oder Eisschwimmer, vielmehr liegt ihm das Kurbeln und Treten. Er ist Radrennfahrer. Seine Spezialdistanz: ultralang.

Diseviscourt bei seinem geglückten Weltrekordversuch.

Das Trans-Siberian Extreme war Diseviscourts erklärtes Ziel der Saison. Ein brutales Rennen über 9.105 Kilometer mit insgesamt 77.000 Höhenmetern innerhalb von 25 Tagen. Die Corona-Pandemie machte das Ziel mit einem Schlag zunichte, das Rennen musste auf 2021 verschoben werden. Und dann kam die Idee mit dem Weltrekord.

"Ersatzprogramm" Weltrekord

Diseviscourt befand sich nämlich in Topform. Sein Training in den Monaten zuvor war auf den Höhepunkt im Juni ausgerichtet. Jeden Tag spulte er 180 Kilometer auf dem Rad ab. 60 Kilometer auf dem Weg ins Büro, klassisch luxemburgisch, eine Bank. Zur Mittagspause war er mit Arbeitskollegen verabredet, eine weitere Tour von 60 Kilometern stand an. Am Nachmittag kümmerte er sich um die Interessen der Bank auf den Geldmärkten, bis er sich am Abend, meist bei Dunkelheit, auf den Heimweg machte – wieder 60 Kilometer. "Ein ganz normaler Tagesablauf", nennt das Diseviscourt im Gespräch mit dem STANDARD. Als sämtliche Wettbewerbe abgesagt wurden, schaffte er sich seinen eigenen.

"Die Idee schwirrte schon länger im Kopf herum, den 24-Stunden-Rekord zu attackieren", sagt der zweifache Vater. Einen ganzen Tag radeln und schauen, wie weit er kommt. Er habe nämlich im Training auf seinem Zeitfahrrad einmal in acht Stunden 300 Kilometer zurückgelegt. Man merkt, der Mann kennt sich mit Zahlen aus, denn: "Wenn ich das dreimal hintereinander mache, lande ich in der Gegend von 900 Kilometern. Das wäre Weltrekord. Ich dachte mir: 'Wieso sollte ich es nicht versuchen?' Es war ein gutes Ersatzprogramm."

Am Stausee fand Diseviscourt die ideale Strecke.
Alain Schanck

Kälte am Kraftwerk

Die Grenzen waren zu, Diseviscourt musste sich in seiner Heimat nach einer passenden Strecke umsehen. Er fand einen Staudamm an einem Pumpspeicherkraftwerk, der vom Straßenverkehr gänzlich abgeriegelt ist, das Streckenprofil traumhaft flach mit einigen langgezogenen Kurven. Der Betreiber des Kraftwerks zeigte sich von dem Projekt schnell begeistert. Vorausgesetzt, Diseviscourt stört nicht die Baustelle am Kraftwerk, die von Montagfrüh bis Freitagabend laufen muss.

Am 11. Juli 2020, einem Samstag, fiel um 14 Uhr der Startschuss. Der Wind auf dem exponierten Staudamm hielt sich in Grenzen. Doch die Temperatur war leistungshemmend. In der Nacht sank sie auf fünf Grad, zu niedrig für den optimalen Leistungsbereich der Wadeln. "Das war ein Kampf", sagt Diseviscourt. "Ich hatte nicht so viel Zeit, mich großartig umzuziehen. Das lässt aber Luft nach oben für das nächste Mal."

Leere Meter

Die Strecke wurde im Vorfeld vermessen und offiziell abgenommen. Die offizielle Länge: 4,35 Kilometer. "Auf meinem Radcomputer hatte ich pro Runde 4,4 Kilometer, weil ich zickzack fahren musste", sagt Diseviscourt. Er wich Schlaglöchern aus, durch die einsetzende Müdigkeit ließ er mit der Zeit immer mehr Platz zu Leitplanke und Schutzmauer. So spulte Diseviscourt über 24 Stunden insgesamt zwölf Kilometer mehr ab, als am Ende offiziell gezählt wurden. "Die waren für die Katz. Bei dem Ergebnis kann ich aber nicht meckern."

915,39 Kilometer standen zu Buche, die alte Bestmarke überbot er um über 20 Kilometer. Im Durchschnitt fuhr er knapp mehr als 38,1 Kilometer pro Stunde, er leistete 287 Watt. Einen ganzen Tag lang. Im Vorbeifahren stellte Diseviscourt noch neun weitere Bestmarken auf: jene über jeweils 100, 200, 300 und 500 Kilometer beziehungsweise Meilen. Nach sechs Stunden war er 251,34 Kilometer im Kreis gefahren, auch das ist neuer Bestwert.

Weitradlfoan in Österreich

Am vergangenen Sonntag reiste Diseviscourt nach Österreich. Beim Race Around Austria (RAA), das für ihn am Dienstagabend in St. Georgen im Attergau startet, ist nicht die Uhr der Gegner. Als großer Favorit geht Christoph Strasser ins Rennen. Der Steirer machte die Sportart Weitradlfoan, wie er den Ultraradrennsport nennt, in den letzten Jahren zu seinem Element. Dreimal gewann er beim RAA, sechsmal das Race Across America. Strasser selbst nennt das Teilnehmerfeld von 2020 als das stärkste der RAA-Geschichte. "Gute Konkurrenten steigern die Motivation im Training", sagt Strasser in seinem Podcast "Sitzfleisch". Diseviscourt nennt er explizit als einen seiner härtesten Kontrahenten: "Er gehört zur Weltklasse. Sein Weltrekord zeigt, dass er wahnsinnig gut drauf ist."

Für Diseviscourt ist es nach dem zweiten Platz von 2017 der zweite Start in Österreich. "Damals", erinnert er sich, "war ich in einer schlechten Verfassung, und ich unterschätzte die Strecke. Es wird ein sehr spannendes Rennen. Wenn es ideal läuft, ist auch der erste Platz drin. Es gibt aber keine Garantien."

Drei Tage wach

Auf dem Rad sieht er sich auf einem Level mit Strasser, vermeintlich Triviales beherrscht er weniger gut. "Ralph fährt extrem schnell, sein Team lässt aber immer wieder Zeit in Pausen liegen", weiß Strasser. Diseviscourt meint, er brauche etwas mehr Schlaf als die Konkurrenz, weil er etwa um sieben Jahre älter ist als der 37-jährige Strasser. Doch Letzterer warnt: "Ich bin mir sicher, dass er mit einer anderen Strategie an den Start geht. Er hat viel Luft nach oben und wird ein ganz harter Gegner."

Strasser hat sich einen neuen Streckenrekord zum Ziel gesetzt. Nach drei Tagen und zwölf Stunden will er die knapp 2.200 Kilometer samt ihren 40.000 Höhenmetern abgespult haben. Das wäre zwei Stunden schneller als bei seiner Bestmarke von 2015. "Christoph ist sicherlich der Beste der Welt", sagt Diseviscourt. "Ich versuche, ihn etwas zu ärgern. Es wird ohne Zweifel eine harte Nuss." (Lukas Zahrer, 11.8.2020)