Der Wohn- und Kaufpark Alt-Erlaa ist planerisch ein Kind der späten 1960er-Jahre, gebaut wurde er 1973 bis 1985. Bis 1987 sank die Bewohnerzahl Wiens, auf dem Programm stand der Wohlfahrtsstaat, und es herrschte architektonische Aufbruchstimmung. Das Bauprojekt Alt-Erlaa passte in die Zeit. "Wohnen wie die Reichen, aber für alle" war das Versprechen, und ja, ein paar von den "allen" waren sowieso reich.

Wohnoase oder Satellitenstadt brutal? Die Idee der "gestapelten Einfamilienhäuser" im Wohnpark Alt-Erlaa hatte Architekt Harry Glück.
Foto: Robert Newald

"Es ist aber kein Ghetto für G’stopfte", sagt Heinz Sack, der hier seit 1979 lebt. Planerisch versuchte man "unterprivilegierte Schichten zu vermeiden", eruierte etwa den Bedarf an Kinderbetreuung, also wie viele Frauen arbeiten wollten.

Gestapelte Familienhäuser

Architekt Harry Glück hatte die Idee von den "gestapelten Einfamilienhäusern", energie- und platzsparend und mit der vermutlich höchsten Siedlungsdichte in Wien. Die drei 400 Meter langen Wohnblöcke mit der einprägsamen, durch die Terrassen sich verjüngenden Schlotform, sind Wohn-Großformat. Gewaltig ist der Wohnpark auch in Zahlen: In seinen etwa 3200 Wohnungen (1–5 Zimmer, 35 Grundrisse, 23 bis 27 Stockwerke) leben um die 10.000 Menschen, es gibt sieben Dachpools, sieben Indoorpools, 21 Saunas, dazu zwei medizinische Zentren, drei Kindergärten, zwei Schulen, zig Spielplätze, eine Kirche, eine Niederlassung der Büchereien Wien.

Der Trumpf: der unverbaubare Fernblick. Mit doppelgeschoßigen Maisonettewohnungen wurde die Existenz eines 13. Stockwerks verschleiert, ein hübsches Detail, auch dem fortschrittlichsten Bauprojekt wohnt ein Aberglauben inne.

Wohnen, stapelbar

Changiz Farjood ist Elektriker, er arbeitet sei 17 Jahren hier als einer der 44 Haustechniker, die den Monsterorganismus am Laufen halten. Die Hausbetreuung ist 24 Stunden am Tag besetzt. Farjood erzählt von den 13.000 Brandmeldern, den Stockwerken im Bauch des Gebäudes voller Leitungen und Autos und Technik für Lifte und Bäder, von den Fassadenkletterern, die sich vom Hubschrauberlandeplatz abseilen, um kaputte Platten der Fassade auszutauschen. Während anderswo große Prestigeprojekte zerbröckeln, bleibt Alt-Erlaa in Schuss, nicht zuletzt, weil die Bewohner gemeinsam mit dem Betriebsrat der Hausbetreuer rasch reagierten, als man 1996 die Haustechnik auslagern wollte.

Die erste Wahl zum Mieterbeirat gab es 1978, seit 1990 wird alle drei statt zwei Jahre gewählt, vertreten sind darin von Beginn an alle, die hier leben, "unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft". Hier ist die vielzitierte Partizipation nicht nur ein leerer Begriff.

Überhaupt: Autofreie Zonen, fußläufig erreichbare Kindergärten und Schulen, Gemeinschaftsräume, Begrünung statt Klimaanlage, ein Kleingarten auf dem Balkon, 80 Prozent Grünanteil auf dem Grundstück, das sind neue Ideen? Menschen aus Alt-Erlaa können darüber nur lachen.

Alt-Erlaa, Next Generation

Das eigene von Mietern ausverhandelte Altstoffzentrum wurde 1993 eröffnet. Seither gibt es deutlich weniger Rest- und Sperrmüll, sortenreine Abfallstoffe werden verkauft, die Betriebskosten dadurch gesenkt. Die Müllschlucker im Haus sind legendär, eine eigene Kartonagenpresse gibt es auch. Aus Japan kam letztens eine Delegation, um sich anzuschauen, wie das alles machbar ist.

Es gibt eine Kirche, zwei Schulen und drei Kindergärten.
Foto: Robert Newald

Auch der Kaufpark, der im vorgegebenen architektonischen Ensemble altersbedingt mehr Shoppingmall-Museum ist, funktioniert wie am Schnürchen, kein Wunder bei mehreren Tausend fixen Kunden. Vor wie vielen Jahrzehnten die Mehrheit der Bewohner eingezogen ist, erkennt man an den zahlreichen Rollatoren, die hier stehen. Der Optiker hat viele Lupen im Angebot und Hörgeräte gibt es hier auch; der Games-Store hat bald wieder zugesperrt.

Hier kann man je nach Lebensabschnitt im gewohnten Umfeld übersiedeln, wird die Familie größer oder ziehen die Kinder aus, werden auch einmal Wohnungen getauscht. Doch die Bewohnerschaft verjüngt sich: In etwa 150 Neuvergaben und Wohnungswechsel gibt es im Jahr. "Die Jungen, die glauben, woanders ist's besser, kommen nach ein paar Jahren wieder zurück", erzählt Farjood. Auf eine Wohnung wartet man bis zu sechs Jahre, der aktuelle Finanzierungsbeitrag beträgt € 115-170/m², die Warmmiete € 8,27- 9,15, samt Pool, Sauna & Gemeinschaftsräume inklusive.

Die Fahrt mit dem Hochgeschwindigkeitsaufzug ins oberste Stockwerk dauert tatsächlich kaum einen gesprochenen Satz lang. Oben sieht man auf halb Niederösterreich. Jemand sonnt sich auf dem knallgrünen Filzboden. Kinder springen ins türkise Wasser. Der Wind rauscht sanft, die U6 auch. Im Hintergrund liegt die sommerlich flirrende Großstadt, in Wahrheit nur ein paar U-Bahn-Stationen entfernt.

Kein Ghetto, ein Dorf

Über 30 Vereine sind hier in eigenen Räumlichkeiten untergebracht, vom Tennisklub bis zum Schießkeller (Luftdruck), vom Kampfsport- bis zum Modellbauklub mit über 300 m² Fläche. Hier sind 2500 Menschen organisiert, man kennt einander seit Jahrzehnten. Die günstige bis kostenlose Freizeitgestaltung ist ein weiteres unbezahlbares Asset.

Heinz und Brigitte Sack wohnen seit 1979 hier, sie bezeichnen sich selbst als Ureinwohner: "Es ist hier eine Stadt in der Stadt."
Foto: Robert Newald

Derweil Architekturkritik und Volksmund sich echauffierten, waren die Bewohnerinnen und Bewohner zufrieden. Sie erleben ihren Wohnort nicht als Bunker und auch nicht als Ghetto. "Es ist wie eine kleine Stadt in der Stadt", sagt Brigitte Sack. "Man kann hier anonym leben oder wie im Dorf. Das liebe ich total. Ich brauche meine Kontakte, aber ich will auch ein Stück Privatsphäre haben." Mit ihrem Gatten Heinz betreibt sie den hausinternen Wohnparksender, er läuft über das interne Kabelnetz. Rezepte und Horoskop stammen von Bewohnern, die Beiträge über Klubaktivitäten landen per USB-Stick im Postkastl. Während der Corona-Krise wurde der Sender zur Informationsquelle bezüglich Öffnungszeiten, Maskenpflicht und Zustelldiensten. Infos werden auch in der Facebook-Gruppe "Wir wohnen in Alt-Erlaa" (1988 Mitglieder, 270 Beiträge im Monat) ausgetauscht.

Je sieben Dach- und Indoorpools für 10.000 Bewohner.
Foto: Robert Newald

Nicht alle Utopien altern gut. Auch Gebäude von Harry Glück wurden längst schon abgerissen. Inzwischen wächst die Stadt um Alt-Erlaa herum. Dass man sich angesichts der neungeschoßigen Gebäude auf den Christenson- und Osram-Gründen wegen Einschränkung der Aussicht besorgt zeigte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Alt-Erlaa ist jedenfalls längst ein Wahrzeichen geworden, auch wenn Mittelgang-Klotz-Architektur mit großer Trakttiefe, aber finsteren niedrigen Gängen und Hochhaus-Fallwinden längst aus der Mode gekommen ist und der Wohnpark wohl der Einzige seiner Art ist und bleibt. Architekt Harry Glück war zu Beginn seiner Karriere Bühnenbildner und Kulissenmaler für die Rosenhügel-Studios. Als Bühne für das Leben mehrerer Generationen hat sich Alt-Erlaa längst etabliert, das gilt auch für die 30 hiesigen Füchse ("Das Füttern ist strengstens untersagt!") und die Kolonie fassadenkletternder Eichhörnchen, die schon mal auf Terrassen und in Schlafzimmern ihre Nüsse verstecken: Vorhang auf! (Julia Pühringer, 15.8.2020)