Nein, ich hatte nicht wirklich eine Ahnung, wo ich war. Und auch keinen Plan: Irgendwo anderswo, wusste ich, würde ich in eineinhalb Stunden Freunde treffen. Und bis dahin sollte ich a) zumindest ein bisserl gelaufen und b) wieder geduscht und gesellschaftsfähig sein.

Aber blöderweise – das hatte ich schon vorher bemerkt – ist Zeit nicht dehnbar: Das Moped zum Service nach Simmering bringen und dann mit den Öffis heimgurken würde sich knapp ausgehen. Aber dann auch noch laufen? No way.

Andererseits: Steht irgendwo in Stein gemeisselt, dass man von einer Werkstatt nicht einfach heimlaufen darf? Eben.

Foto: thomas rottenberg

Simmering also. Natürlich bin ich hier schon gelaufen: Zentralfriedhof. Liesingbach. Die Wege zwischen den Gemüsegärten hinüber zum Kraftwerk Freudenau. Die Zone rund um Schloss Neugebäude. Das kenne ich – auch läuferisch.

Aber die dichtverbauten, so gar nicht hippen Reviere? Am Kanal? Lorystraße? Hauffgasse? Das letzte Mal war ich, glaube ich, hier, als es die Szene Wien noch gab. Das ist mehr als eine Weile her – in einem anderen Leben, als ich von Laufen in etwa so viel wusste wie von Molekularbiologie.

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In Wien ohne Plan durch unbekannte Viertel zu rennen, ohne sich zu verlaufen, ist aber keine große Kunst: Die Stadt ist logisch – in konzentrischen Kreisen – aufgebaut. Sogar wenn man keine Ahnung vom Straßenbahnnetz hat oder irgendeinen U-Bahn-Würfel in Sichtweite weiß, genügt es, einfach loszulaufen. Spätestens wenn man auf S- oder Eisenbahnstrecken trifft, findet man auch eine der Hauptradrouten: Dass die in Wien oft auf Seitenwege oder ganz ins Off verlegt sind, mag beim Radfahren stören – beim Laufen aber hilft es: Da stehen Destinationen und Entfernungen drauf. Am Kanal etwa geht es parallel zur Bahntrasse Richtung Landstraße: auto- (aber auch radfahrer-) frei. Links die Bahn, rechts Gemeindebauten: Südwestlage. Balkone. Abgesehen von der Bahn-Akustik und dem Postleitzahlen-Stigma (ich weiß, wovon ich rede: 1100 war in meiner Kindheit nicht gerade eine Empfehlung) vermutlich gar nicht so übel.

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Wieso es von Simmering hier keine Fotos gibt? Ich hatte nur ein Uralt-Nothandy dabei. Und eigentlich auch gar nicht geplant, diesen Lauf zu beschreiben: zu normal. Zu banal. Zu "Was gibt es da denn schon groß zu erzählen?". Aber dann, schon in 1030 (Landstraße), fiel mir auf, dass das ein Fehler war: Wien wächst – aber wohin eigentlich? Stadterweiterung ist in vielen Köpfen ein theoretischer Begriff.

Foto: thomas rottenberg

Eventuell waren Sie einmal in der doch etwas abgelegenen Seestadt Aspern. Und dass hinter dem Hauptbahnhof das Sonnwendviertel irgendwo zwischen Besiedeltwerden und Schon-belebt-Sein rangiert, wissen Sie vermutlich auch. Aber waren Sie je dort? Und: Wissen Sie, wo der "Erdberger Mais" liegt? Wie es auf den Aspanggründen aussieht? Was Eurogate ist?

Foto: thomas rottenberg

Ich war vor 1.000 Jahren manchmal hier. Als man vom Gürtel kommend noch unter einer Plakatwand durchschlüpfen musste, um über richtig wilde Gstetten-Pfade, vorbei an kleinen "Dörfern" von Obdachlosen und Ausreißern Richtung Aspanggründe und Landstraße zu spazieren. Ein TU-Departement gab es schon damals dort, aber sonst eigentlich nix – außer großen Worten und Plänen, mit denen aber kaum jemand (ich ja auch nicht) tatsächlich etwas anfangen konnte.

Foto: thomas rottenberg

Heute ist das anders. Und so unvorstellbar, wie es bei diversen Gstetten-Touren – später ja sogar geführt mit Stadtplanern, Politikern, Investoren und Architekten – war, dass und wie sich dieses leere Nichts binnen weniger Jahre in belebtes Etwas verwandeln können würde, so nicht-nachvollziehbar ist aus heutiger Sicht, wie es hier früher war. Obwohl es eh immer noch so ist: Dass südlich der Otto-Preminger-Straße immer noch das Nichts nichtet, bekommt man – wenn man hier wohnt – vermutlich gar nicht mit: 95 Prozent der Menschen blenden das, was ihr Leben nicht wirklich betrifft, sogar aus, wenn es in Spuckweite ist.

Foto: thomas rottenberg

Probieren Sie es aus. Bei sich selbst – oder bei Wildfremden: Ich fragte hier nach der Teddy-Kollek-Promenade und der Maria-Schell-Straße – und bekam nur staunende, mehr als leicht irritierte Blicke. Dabei liegen diese Wege genau hier.

Aber eben im (noch) nicht urbanisierten Teil der Aspanggründe, knapp außerhalb von Eurogate. Der Name irritiert mich seit Jahren: Wieso man eine Siedlung ohne Not so nennt, dass es nach Politskandal, Korruption und Sumpf klingt, muss ich ja nicht verstehen.

Foto: thomas rottenberg

Außerdem gibt es hier auch Wichtigeres. Dass mich eine der hier in der Sonne sitzenden Frauen sofort anfuhr, dass ich mich unterstehen solle, auf einem Mahnmal herumzuklettern, finde ich sehr okay: Ich hatte derlei nicht einmal im Entferntesten im Sinn, sondern schaute mir den Stein und die Installation, die seit 2017 im Leon-Zelman-Park daran erinnert, dass hier, am einstigen Aspanger Bahnhof, für tausende Wiener Jüdinnen und Juden der Weg in den Tod begann, nur aus der Nähe an.

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Zu den Details, die einem auf so einem Lauf durch das unspektakuläre Wien begegnen, gehören auch Blicke wie dieser. Ein Nichtbild mit Nichtblick. Andererseits ist da ziemlich viel "Musik" drin: Denn natürlich steht es jedem frei, seinen Balkon zu nutzen und zu möblieren, wie es den individuellen Bedürfnissen entspricht.

Gleichzeitig hauen derartige Arrangements – aber noch mehr bunte Sichtschutzplastikplanen – das Gesamtbild einer Anlage zusammen. "Schön" ist subjektiv. Zweckmäßig auch. Aber wenn der Nachbar (auch) wegen der Ästhetik des Ensembles hergezogen ist oder die Errichtergesellschaft, die Stadtplaner oder sonstwer Investoren für das nächste Prestigeprojekt einlädt, kann es wegen genau solcher Nebensächlichkeiten mitunter lustig werden.

Foto: thomas rottenberg

Weiter stadteinwärts wird Wien dann wieder wienerischer. Wieder mehr so, wie es dem Altbauklischee entspricht. Die Häuser sind unauffällig. Außer man achtet auf kleine, fast hilflose Versuche, Fassaden zumindest den Hauch von etwas Besonderem zu verleihen. Oder Grünraum zu schaffen.

So wirklich interessieren Kunstversuche im öffentlichen Raum in solchen Ecken aber wohl niemanden: zu wenig Publikum. Die Lärm- und Sichtwände zur Bahn sind sogar für bunte Graffitis nicht attraktiv genug. Die andere Lesart: Hier fehlt den Neo-Banksys einfach die ungestörte Zeit – schließlich wird man bei der "Arbeit" aus 1.000 Fenstern gesehen.

Foto: thomas rottenberg

Was für mich neu war: Dass der unattraktive Nichtort an der Kreuzung von Rennweg, Ungargasse und Fasangasse einen eigenen Namen hat, wusste ich bisher nicht. Er heißt Fasanplatz. Aber der Versuch, einen Bezug zwischen dem Namen und dem kulinarischen Angebot vor Ort herzustellen, ist wohl eher zum Scheitern verurteilt. Daran ändert auch das "Hühnerparadies" auf der anderen Straßenseite nichts.

Relevanter schien mir hier die Frage, ob ich wirklich am Rennweg weiterlaufen wollen würde: eng, laut, stickig – und mitten im Verkehr. Nicht wirklich sexy.

Foto: thomas rottenberg

Also bog ich ab – und fand mich im Botanischen Garten wieder. Nicht ganz zufällig: Seit dem Lockdown bekomme ich in etwa wöchentlich Fotos von den "Laufverbot"-Schildern dieses Geheimtipps und Nebenparks des Belvedere.

Die Maßnahme war unter dem Vorwand der Corona-Prävention überfallsartig verhängt worden – und auf der Homepage des Botanischen Gartens zunächst als "vorübergehend" erklärt worden.

Foto: thomas rottenberg

Davon ist heute aber keine Rede mehr, der "Vorübergehend"-Hinweis ist mittlerweile unauffindbar: Läuferinnen, die nachfragten, wurde – schreiben sie mir – sogar schriftlich beschieden, dass das so bleiben werde.

Der Grund: Corona. Damit lässt sich schließlich so gut wie alles unargumentiert begründen.

Zum anderen werden auch die "schmalen Wege" ins Treffen geführt – angeblich gepaart mit der Behauptung, Läuferinnen und Läufer seien grundsätzlich abseits von Wegen unterwegs.

Foto: thomas rottenberg

Dass es hier auch breite Wege gibt und ich keinen einzigen Läufer (aber etliche "normale" Besucher) abseits der Pfade sah, merke ich hier nur der guten Form halber an. Den laut mehreren Mails angeblich eigens zum Läufer-Abfangen eingestellten Wächter sah ich zwar nicht – aber ich lief ja auch nicht: Die Nachrede, durch zu schnelles Bewegen ein Covid-Cluster und die Vernichtung eines (in so gut wie jedem Laufguide über Wien als wunderschön zu belaufen angeführten) Parks verursacht zu haben, brauche ich echt nicht.

Ja eh: Man kann natürlich auch anderswo laufen. Das kann man immer. Aber verstehen muss ich sowas trotzdem nicht.

Foto: thomas rottenberg

"Anderswo" heißt in dem Fall natürlich dann Belvedere. Und wie jedes Mal, wenn ich hier bin, fällt mir auf, wie selten ich den Canaletto-Blick laufe und wie perfekt dieser Park mit seinen sanften Steigungen für Hügeltraining und Intervalle ist.

Ganz abgesehen davon, dass er wundschön ist und ich einerseits froh bin, hier derzeit nicht durch Touristenmassen Slalom laufen zu müssen, es andererseits aber beruhigt mitzubekommen, dass Wien doch wieder Besucher aus anderswo anzieht.

Foto: thomas rottenberg

Nach dem Belvedere ging es dann einfach nach Hause. Russendenkmal, Hochstrahlbrunnen, Karlsplatz, Naschmarkt oder Margaretenstraße: Das renne ich mit geschlossenen Augen.

Diesmal nicht. Auch wenn die Innen- und Hinterhöfe der Stallungen und Wirtschaftsgebäude des Unteren Belvedere (die schon früher eigentlich nicht öffentlich waren) durch eine Megabaustelle unerreichbar sind, ist der kleine Pfad hinter dem Russendenkmal offen.

Nein, auch das ist nix Besonderes – nur eine Möglichkeit, einen anderen Blick als den gewohnten auf etwas zu richten, das man so oft sieht, dass man das Wichtige daran nicht mehr wahrnimmt: die Vielfalt und Schönheit jenes Ortes, der "Zuhause" ist.

(Thomas Rottenberg, 12.8.2020)

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