"Freiheit für Belarus" fordern die Demonstranten für ihre Heimat.

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Die Gewalt auf den Straßen von Minsk hat einen Tag nach der Abstimmung, in der sich Präsident Alexander Lukaschenko zum sechsten Mal zum Wahlsieger küren ließ, deutlich zugenommen. Mit aller Härte gingen Sicherheitsorgane in Belarus (Weißrussland) gegen Demonstranten vor. Videos von wild prügelnden Beamten der Sondereinheit Omon, von Wasserwerfern, Rauchbomben und Tränengas fluteten das Internet genauso wie Bilder von durch Gummigeschosse verletzten Demonstranten.

Aber auch der Protest hat sich in kürzester Zeit radikalisiert. Die Demonstranten bauten Barrikaden, wehrten sich gegen Festnahmen und versuchten teilweise, andere Demonstranten gewaltsam aus dem Polizeigewahrsam zu befreien. Zum Einsatz kamen neben Feuerwerkskörpern dabei auch selbstgebaute Molotowcocktails.

Nach Angaben des Innenministeriums wurden 21 Polizisten verletzt. Über die Anzahl der verletzten Demonstranten gibt es unterschiedliche Angaben – von einigen Dutzend bis zu mehreren Hundert.

Das Innenministerium hat zudem den Tod zumindest eines Demonstranten eingeräumt. Nach offiziellen Angaben war freilich ein selbstgebastelter Sprengsatz die Todesursache. Festgenommen wurden demnach weitere 2.000 Menschen. In der Wahlnacht hatten die Behörden bereits 3.000 Demonstranten festgenommen.

Spätes Lebenszeichen

Spät aber doch hat die EU auf die umstrittene Wahl reagiert. Die Europäische Union hat der Führung des Landes mit Sanktionen gedroht. Die Wahl am vergangenen Sonntag sei "weder frei noch fair" gewesen, hieß es in einer am Dienstag veröffentlichten Erklärung der 27 EU-Mitgliedstaaten.

Die EU werde die Beziehungen zu Minsk auf den Prüfstand stellen und auch "Maßnahmen" gegen weißrussische Vertreter prüfen, die für "Wahlmanipulation, Gewalt gegen regierungskritische Demonstranten sowie willkürliche Festnahmen" verantwortlich seien.

Wie dramatisch die Situation in Belarus ist, zeigt sich auch am Beispiel der Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja. Sie hatte am Montagnachmittag in der Wahlkommission Klage gegen das offizielle Abstimmungsergebnis eingereicht, da sie sich als Wahlsiegerin sah. Dann verschwand sie stundenlang, erst am Dienstag gab es überhaupt ein Lebenszeichen von der 37-Jährigen.

Und dies aus dem Nachbarland Litauen. Von dort meldete sich die Lukaschenko-Herausforderin sichtlich verängstigt zu Wort. Sie habe geglaubt, dass sie durch die Wahlkampagne abgehärtet sei und sich durch nichts mehr schrecken lasse. Doch sie habe sich geirrt. "Ich weiß, dass mich viele verstehen, viele aber auch verurteilen und hassen werden. Aber gebe Gott, dass niemand vor der Wahl stehen muss, vor der ich stand", sagte sie. Sie bat die Belarussen, auf sich aufzupassen, und schloss ihre etwas konfuse Botschaft mit der Aussage: "Die Kinder sind das Wichtigste im Leben."

Parallel dazu veröffentlichten regierungsnahe Messengerdienste eine Erklärung Tichanowskajas, die sie allem Anschein nach noch verlesen musste, als sie in Minsk im Gebäude der Wahlkommission feststeckte. Dort bat sie die Demonstranten, den Widerstand gegen die Polizei einzustellen.

Die Opposition vermutet, dass Tichanowskaja von den Behörden massiv bedroht und unter Druck gesetzt worden sei. Immerhin ist ihr Ehemann Sergej Tichanowski seit Monaten im Gefängnis. Ihre Videobotschaft aus Litauen lässt zudem vermuten, dass sie um das Leben ihrer Kinder fürchten musste. Klar scheint, dass die Sicherheitsorgane selbst ihre Ausreise veranlasst haben. Litauen hat Tichanowskaja ein Eilvisum erteilt.

Opposition will weitermachen

Trotz des Ausscheidens von Tichanowskaja will die Opposition nicht aufgeben. Sie kündigte die Schaffung eines "Komitees zur nationalen Rettung" an. Der ebenfalls geflohene Ex-Präsidentschaftskandidat Waleri Zepkalo sagte, das Komitee werde sich nicht um einen Führer scharen, sondern Prinzipien verteidigen. Die Lage Tichanowskajas sei "verständlich". Wenn sie wolle, könne sie im Komitee mitwirken, so Zepkalo.

Dem schon zuvor von der Opposition verkündeten Generalstreik im Land sind inzwischen mehrere Betriebe gefolgt. Neben einem großen Maschinenbauer in Minsk sind Reifenwerke, mehrere Energieversorger und Nahrungsmittelbetriebe in den Ausstand getreten. Daneben beteiligen sich nach Oppositionsangaben auch Mitarbeiter des öffentlichen Nahverkehrs am Streik.

Am Dienstagabend folgten weitere Auseinandersetzungen. Die Polizei trieb Bürger auseinander, die Blumen zum Puschkinplatz in Minsk brachten. Dort war am Vortag ein Demonstrant ums Leben gekommen. Wie in den Tagen zuvor versammeln sich die Demonstranten nicht an einem Ort, sondern in der ganzen Stadt. Damit müssen sich auch die Ordnungskräfte zerstreuen und sind weniger effektiv. (André Ballin, 11.8.2020)