Abstrahierte computergenerierte menschliche Figuren werden von Zusehern in der Regel anstandslos akzeptiert. Je mehr die virtuellen Gesichter aber einem realen Menschen ähneln, desto größer ist das Befremden bei menschlichen Betrachtern. Erst wenn das Computerantlitz vom Original praktisch nicht mehr zu unterscheiden ist, steigt die Akzeptanz wieder. Das Phänomen wird als "Uncanny Valley" oder Akzeptanzlücke bezeichnet und ist nicht allein dem Menschen vorbehalten.

Auch bei Affen existiert ein vergleichbarer Effekt, was zwar ein starkes Argument dafür ist, dass die Wahrnehmung von Gesichtsausdrücken bei Menschen und Affen auf ähnlichen Mechanismen beruht, bei der experimentellen Verhaltensforschung aber oftmals ein Hindernis darstellt. Denn wer mehr über das soziale Miteinander von Affen lernen möchte, muss den Tieren die Gesichtsausdrücke ihrer Artgenossen in kontrollierter Weise präsentieren. Das ist mit Videos von echten Affen allein nicht möglich, weshalb zu animierten Affengesichtern gegriffen wird, die jedoch gewissen Anforderungen genügen müssen.

Uncanny Valley bei Rhesusaffen

Wissenschafter von der Universität Tübingen zeigten kürzlich in der Fachzeitschrift "eNeuro", dass der "Uncanny Valley"-Effekt bei Rhesusaffen überwunden werden kann. Die Tiere lehnen Avatare ab, die dem natürlichen Vorbild nicht nahekommen, akzeptieren jedoch eine natürlich anmutende Version und eine völlig fremde Form. "Wir bestätigen nicht nur, dass es den "Uncanny-Valley"-Effekt bei Rhesusaffen tatsächlich gibt, sondern zeigen auch, dass die Affen auf einen sehr natürlich anmutenden Avatar mit arttypischem Verhalten reagieren", sagt der Neurowissenschafter Peter Thier.

Er und sein Kollege Martin Giese werden den akzeptierten Avatar nutzen, um zu verstehen, wie Rhesusaffen den Gesichtsausdruck ihrer Artgenossen wahrnehmen und angemessen darauf reagieren. "Solche Untersuchungen können uns helfen, herauszufinden, warum Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung Schwierigkeiten haben, den Gesichtsausdruck und den Blick des anderen zu verstehen und damit umzugehen", sagt Ramona Siebert, die Erstautorin der Studie. "Gesichtsausdrücke zu interpretieren ist eine Kernfunktion menschlicher Kommunikation", so Thier. "Wir haben durch die Verwendung des Avatars die Chance, zu verstehen, worauf das Kommunikationsdefizit beim menschlichen Autismus beruht".

Vier Avatare und und fünf Gesichtsausdrücke wurde den Rhesusaffen präsentiert.
Foto: Uni Tübingen/Siebert et al.

Vier Gesichter und fünf Ausdrücke

Die Tübinger Wissenschafter haben mit vier verschiedenen Avataren gearbeitet: einem natürlich aussehenden Avatar mit Fell und Gesichtsdetails, einem Avatar ohne Fell, einem Graustufen-Avatar und einem Gittermodell-Avatar. Zudem zeigten sie den Versuchstieren auch Videoaufnahmen von Gesichtsausdrücken ihrer Artgenossen. Die Rhesusaffen schauten auf das Gittermodell, vermieden allerdings den Blick auf den Graustufen-Avatar und den Avatar ohne Fell, was dem "Uncanny-Valley-Effekt" entspricht.

Dabei ging es um fünf Gesichtsausdrücke: um einen neutralen Gesichtsausdruck, eine Drohgebärde, einen ängstlichen Ausdruck, ein freundlich-entgegenkommendes Schmatzen und um einen artifiziellen Ausdruck, den es im Verhaltensrepertoire der Tiere gar nicht gibt.

Bewegung wirkt mehr

Am längsten schauten die Rhesusaffen auf die Drohgebärde, interessierten sich aber auch für den freundlichen und den ängstlichen Ausdruck, für den artifiziellen Ausdruck dagegen kaum. Die Tiere reagierten auf die Videoaufnahmen der lebenden Artgenossen und den natürlichen Avatar am ehesten mit einer freundlichen Geste.

Die unnatürlichen Avatare lehnten sie noch stärker ab, wenn diese den jeweiligen Gesichtsausdruck als Bewegung präsentierten, nicht als statisches Bild. Das ist auch beim Menschen so. Nicht gemochte Avatare werden als Animationen noch weniger akzeptiert als in Form eines statischen Bildes. (red, 11.8.2020)