"Das Virus schläft in den Kaninchen – niemand weiß, warum es ausbricht", sagt Forstdirektor Andreas Januskovecz.

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Jede Großstadt hat ihre Phänomene, Wien ist da keine Ausnahme. Nehmen wir zum Beispiel die wilden Kaninchen in den Grünanlagen am Handelskai. Postet man im Jahr 2020 ein Foto der Tiere in den sozialen Medien, entspinnt sich darunter sofort eine rege Diskussion. Manche Wiener hören zum ersten Mal davon, während andere sich zu erinnern glauben, dass es die "immer schon" gegeben habe. Es gibt Gerüchte so wild wie die Kaninchen selbst: Die Stadt würde die Population alle paar Jahre radikal bejagen, dem Problem aber einfach nicht Herr werden.

Beim Lokalaugenschein an einem brüllend heißen Sonntag im August wälzen sich die Wiener auf den Rasenflächen am Handelskai. An der Donau ziehen junge Schwäne an alten Anglern vorbei. Zwischen dem Bahndamm auf der einen und dem Fluss auf der anderen Seite hoppeln auch an diesem Sonntag Kaninchen umher, langohrig, teilweise nur faustgroß und sehr niedlich. Aber ihre Zahl ist überschaubar. Auf den knapp anderthalb Kilometern zwischen Millennium Tower und dem Schiffanlegeplatz vor der Reichsbrücke kann der Beobachter an diesem Sonntag 24 Kaninchen zählen: 14 erdfarben, vier schwarz, eines weiß, fünf tot. Eine Krähe pickt unmotiviert am leblosen Körper eines der Tiere herum. Für die toten Tiere gibt es einen Grund, doch dazu später mehr.

Schwindende Population

19 (lebende) Kaninchen sind für eine öffentliche Grünanlage eine Menge, aber es waren schon mal deutlich mehr. Noch im Mai waren die Wiesen von Kanincheneltern und ihren Würfen geradezu überfüllt. Wo sind die alle hin? Und wo sind sie eigentlich hergekommen?

Wer bei Andreas Januskovecz, Wiens Forstdirektor, anruft, um sich nach den "Wildkaninchen" zu erkundigen, wird gleich im ersten Satz freundlich korrigiert. "Es sind verwilderte Hauskaninchen", sagt Januskovecz.

Die Population am Handelskai gibt es seit den 1990er-Jahren. Ihre Geschichte, kurz und prägnant zusammengefasst: Irgendwann vor knapp 30 Jahren setzten Wiener ein paar der Tiere am Handelskai aus. Diese überlebten, gruben sich Bauten in den weichen Boden und machten das, was Karnickel halt so sprichwörtlich tun. Seitdem hat die Stadt am Donauufer eine verwilderte Kaninchenpopulation – die einzige, von der man bei der zuständigen MA 49 weiß. Die Tiere sind an Spaziergänger gewöhnt, aber nicht zahm. Sie lassen Menschen auf anderthalb Meter, also knapp Instagram-Distanz, herangekommen, sich aber nicht streicheln.

Der Handelskai bietet den Tieren gute Lebensbedingungen. Im Bahndamm lässt es sich gut graben, die Wiener Winter sind nicht so hart, dass es für die Tiere ein Problem wäre. Sie würden dort prinzipiell auch ausreichend Futter finden, was aber nicht notwendig ist. "Leider füttern viele Menschen aus falsch verstandener Tierliebe", sagt Januskovecz. "Das gilt für Tauben, Enten und auch für Kaninchen." Letztens sei er für ein Fernsehinterview vor Ort gewesen. In den 30 Minuten hätten zehnmal Menschen Gemüse oder Brot für die Kaninchen abgeladen.

Chinavirus

Ein Biologe würde jetzt natürlich fragen, warum die Population nicht explodiert. Wenn Tiere ausreichend Futter, Lebensraum und keine natürlichen Feinde – für Haushunde sind sie zu schnell, Füchse gibt es in Brigittenau wie überall in Wien, aber nicht in ausreichender Zahl – haben, müsste es eigentlich mehr von ihnen geben. Dafür ist aber, anders als Gerüchte besagen, nicht die Stadt verantwortlich, sondern das Virus RHD1. Es ist unter dem Namen "Chinaseuche" bekannt, was im Moment noch problematischer ist als sonst. Das Virus hinterlässt aktuell wieder eine Schneise der Verwüstung unter den Kaninchen am Handelskai. Deshalb gibt es im August viel weniger davon als im Mai. Und deshalb liegen an einem Sonntag auch mehrere Tiere tot herum.

RHD1 ist – und jetzt wird die Geschichte unappetitlich – eine Bluterkrankheit. Im Endstadium tritt bei den Tieren Blut aus Augen und After, sie wackeln wie betrunken auf die Straße und die Gehwege und kippen irgendwann einfach um. Aktuell schaut die MA 49 laut Aussage von Januskovecz dreimal täglich am Handelskai vorbei, um tote Kaninchen aufzuklauben. Das sei nicht nur ästhetisch wichtig. Für den Menschen ist das Virus zwar ungefährlich, kann aber von diesen problemlos mit heim zu den Hauskaninchen gebracht werden, auch vom toten Tier. RHD1 ist unheilbar, sagen die Experten der Veterinärmedizinischen Universität. Man kann nichts anderes machen als warten, bis der aktuelle Ausbruch vorüber ist.

Lotka-Volterra-Modell

In der Biologie gibt es das berühmte Lotka-Volterra-Modell, das die Beziehung zwischen Populationsgrößen von Räubern und ihrer Beute beschreibt. Ganz grob gesagt führt eine Zunahme von Beutetieren zu einer Zunahme von Räubern, die wiederum die Anzahl der Beutetiere reduziert. Und so weiter und so fort, ein ewiger Kreislauf.

Bei den Kaninchen am Handelskai ist es auch ein bisschen so, nur dass sie eben keine Fressfeinde haben, die die Population regulieren könnten. Deshalb hat Wiens einzige verwilderte Kaninchenpopulation quasi eine analoge Beziehung mit dem Virus RHD1: Es gibt alle fünf bis sechs Jahre einen Ausbruch, der die Zahl der Tiere dramatisch reduziert.

Danach wächst die Population mit der Zeit wieder auf geschätzte über 200 Tiere, bis das Virus erneut zuschlägt. Warum das Virus in manchen Jahren zuschlägt, in anderen nicht und was es in der Zwischenzeit macht, weiß niemand genau. "Das können uns leider nicht mal die Experten der Veterinärmedizinischen Universität sagen", sagt Januskovecz. Eine mögliche Erklärung wäre, dass das Virus quasi passiv in der Population "schlafe" und durch äußere Ereignisse – beispielsweise den Stress von zu vielen Artgenossen – aktiviert werde. "Aber wir wissen es einfach nicht."

Keine Jagd

Ausrotten lassen sich weder die Kaninchen – die Stadt bejagt sie entgegen den Gerüchten nicht – noch das Virus in ihnen. "Wir müssten jedes einzelne Tier impfen, und wir würden niemals alle erwischen", sagt Januskovecz. Die Tiere seien zu schnell und zu gut versteckt, und aufgrund der rasanten Vermehrungsrate wären sie nach einer Zeit eh wieder da. "Ich weiß, in einer gut verwalteten Stadt wie Wien ist immer jemand zuständig oder hat Schuld. Aber das ist ein Fall, wo wir einfach nicht mehr tun können."

Wiens Handelskai wird also weiter mit den Kaninchen leben müssen. In Nichtvirusjahren mehr, in Virusjahren weniger. (Jonas Vogt, 16.8.2020)