Eines kann man Joe Biden gewiss nicht vorwerfen: dass er nachtragend sei. Immerhin hat ihn Kamala Harris, die Senatorin, mit der er nun in den Wahlkampf zieht, gleich bei der ersten TV-Debatte der Demokraten im Vorwahlkampf schlecht aussehen lassen. Ihr Vorwurf, der Jungsenator Biden habe einst lieber mit rassistischen Amtskollegen aus den Südstaaten kooperiert, statt für ein Ende der Rassentrennung an Amerikas Schulen zu kämpfen, stürzte ihn in tiefe Verlegenheit. Wer gedacht hatte, Harris’ Attacke würde ihre Nominierung verhindern, ist eines Besseren belehrt worden.

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Kamala Harris wird Kandidatin für die Vizepräsidentschaft.
Foto: REUTERS/Carlo Allegri

Im Punkt Kritikfähigkeit unterscheidet Biden sich markant von Donald Trump, dem Präsidenten, der fähige Minister reihenweise abservierte, sobald sie es wagten, ihm zu widersprechen. Vielleicht ist das ja schon Teil der Botschaft: Hier will kein rachsüchtiger Kleingeist im Weißen Haus einziehen, sondern ein souveräner Politiker, dem man das Staatsruder gerade in schwerem Fahrwasser anvertrauen kann. Weil ihn Wichtigeres beschäftigt als die eigene Empfindlichkeit.

Mit der Personalie hat Biden Geschichte geschrieben. Zum ersten Mal zieht eine der beiden großen US-Parteien mit einer dunkelhäutigen Frau auf dem Ticket ins Wahlkampffinale. 1984 hatte Walter Mondale, ein Demokrat, Geraldine Ferraro als erste Frau überhaupt zum "Running Mate" gekürt, 2008 folgte der Republikaner John McCain mit Sarah Palin. 2016 wollte Hillary Clinton selbst Präsidentin werden. Nun folgt Kamala Harris, die im Grunde in doppelter Hinsicht für eine Premiere steht. Da ihre tamilische Mutter aus Indien stammt, sehen auch Asian Americans in ihrer Kandidatur einen historischen Durchbruch.

Spitzenmann

Mehr noch, als es sonst der Fall wäre, hat das Wort vom Sprungbrett Vizepräsidentschaft seine Berechtigung. Von Stellvertretern des Staatschefs wird auch in normalen Zeiten erwartet, dass sie selbst das höchste Amt anstreben, wenn die Nummer eins die Machtzentrale verlässt. Schon deshalb hat Biden Weichen gestellt, denn de facto ist Harris nun die Nummer zwei der Demokratischen Partei. Falls er die Wahl gewinnt, dürfte 2024 oder spätestens 2028 kein Weg an ihr vorbeiführen. Hinzu kommt das Alter des Spitzenmannes. Sollte er Trump ablösen, wäre er im Jänner mit 78 Jahren der Älteste, der je im Oval Office regierte. Womöglich zwingen ihn Krankheit oder Schwäche irgendwann zum Pausieren oder gar zum Aufgeben. Dann hätte er diese Woche der ersten US-Präsidentin den Weg geebnet.

Nur hat diese Kandidatur, wie jede andere, eben auch ihre Schwächen. Harris enttäuschte im Vorwahlkampf, was bei all ihrer Erfahrung, ihrer Debattenstärke die Frage aufwirft, wie sie sich auf der ganz großen Bühne der Politik schlägt. Die Parteilinke fremdelt mir ihr genauso wie mit Biden. Man kann nicht ausschließen, dass manche, wie schon 2016, aus Frust überhaupt nicht wählen und Trump in die Hände spielen. Schließlich soll der "Running Mate", zumindest der Theorie nach, einen Swing-State in die Waagschale werfen, idealerweise ein populärer Lokalmatador sein in einem jener hart umkämpften Bundesstaaten, in denen es auf Messers Schneide steht. Die Kalifornierin Harris hat in dieser Beziehung nichts beizusteuern. Ihr Staat wählt so verlässlich demokratisch, dass sich Biden dort schon jetzt zum Sieger ausrufen lassen könnte. (Frank Herrmann, 12.8.2020)