Mehlwürmer, Grillen, Kakerlaken und Maden auf dem Teller: Alles kein Problem, runter damit. Ausgerechnet bei fermentierten Sojabohnen haute es Brigitte Nielsen die Sicherungen raus. "Ist das ekelhaft, Leute", quietschte die Dschungelcamp-Teilnehmerin 2016 – und holte keine Sterne für ihr Team. Viele, die von der japanischen Delikatesse Nattô bis dahin noch nie etwas gehört hatten, probierten "diesen Schleim" darauf neugierig aus.

Wien-Meidling, ein kleines Gassengeschäft mit großem Schaufenster. Unwahrscheinlich, dass die hier Anwesenden Fans des RTL-Formats Ich bin ein Star – holt mich hier raus sind. Sie interessieren sich für die Kunst des Fermentierens. Einige haben Nattô schon gekostet, andere noch nicht. Heute geht es darum, wie man diese Köstlichkeit, die reich an Eiweiß und Vitaminen ist, selbst herstellt. Im Workshop Tempeh & Nattô soll erklärt werden, woher das vegane Superfood kommt und was man damit kochen kann.

Foto: Robert Newald

Soja, das wie Käse schmeckt

"Wenn es nach nichts schmeckt, ist es tot", sagt Wolfgang Wurth, der eigentlich gelernter Mikrobiologe ist und mittlerweile im niederösterreichischen Prellenkirchen dieses typisch japanische Lebensmittel produziert. Er öffnet drei seiner Gläser, Nattô in verschiedenen Reifestufen, und lässt sie eine Runde drehen. Es ziehen sich lange Fäden beim Essen, ein bisschen riecht Nattô wie Käse. Und es hat einen leicht nussigen Ton. Gewöhnungsbedürftig ist es schon, aber ekelig findet es zumindest hier keiner. Geschmäcker ändern sich eben. Im Wiener Großstadtdschungel ist Fermentieren gerade angesagt.

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Das Ambiente von Wild & Wunder, Österreichs erstem Fermentierzentrum, ist faszinierend. Mehrere Millionen Bakterien, Hefepilze und Sporen sind hier zu Hause. In großen Gläsern leben Kombucha-Schwämme, Umeboshi-Pflaumen wurden eingelegt, und allerlei sonstige Leckereien reifen vor sich hin.

Seit einem Jahr gibt es Wild & Wunder samt Onlineshop jetzt schon, erzählt die Gründerin Sirkka Hammer, die lange in Asien gelebt hat, wo Haltbarmachen durch Fermentieren und Einlegen eine lange Tradition hat. Sie sieht sich als Wissensbewahrerin: "Es ist sicher auch eine Reaktion auf die industriellen Waren, die überall verkauft werden, dass viele Menschen wieder wissen wollen, woher Lebensmittel eigentlich kommen und wie sie hergestellt werden", sagt sie.

Beim Workshop im Meidlinger Fermentierzentrum Wild & Wunder lernen Interessierte, wie man mit dem veganen Superfood Nattô kocht, Kimchi und Miso herstellt – oder wie man Lebensmittel durch Fermentieren und Einlegen länger haltbar macht.
Foto: Robert Newald
Foto: Robert Newald

In ihren Workshops werden Milch, Butter und Obers produziert, das koreanische Kimchi oder Miso. Ähnlich wie Töpfern oder andere Handwerkstechniken, die in den 1970er-Jahren hoch im Kurs standen, und dann eher verpönt waren, liegt Fermentieren gerade voll im Trend. Wie man Koji, Miso, Essig und Kombucha herstellt, ist nicht zuletzt durch den dänischen Starkoch René Redzepi wieder ins Bewusstsein einer jungen, hippen Generation gedrungen. Sein im Vorjahr erschienenes Kochbuch Das Noma-Handbuch Fermentation war ein Anstoß, sich mit alten Techniken des Haltbarmachens auf eine zeitgenössische Art zu beschäftigen.

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Soziale Medien erledigen den Rest: Essen ist längst nicht mehr nur ein elitäres Distinktionsmerkmal einer bürgerlichen Schicht. Hipster leisten sich gern etwas – und zeigen es her, das gute, gesunde Leben, das sie führen. Yoga und Brotbacken, Naturwein und Wandern. Zurück zur Natur, aber bitte fotogen.

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Neues Bewusstsein

Auf der anderen Seite spricht natürlich nichts dagegen, wenn die Menschen wieder mehr Bewusstsein für Qualität von Lebensmitteln entwickeln, sich mit Massentierhaltung konfrontieren, anstatt sie auszublenden. Was das Coronavirus bleibend verändern wird in unserem Umgang mit Essen, wird sich erst zeigen. "Man hatte zumindest im Lockdown wieder mehr Zeit, gemeinsam zu kochen und zu essen", sagt Johannes Lingenhel, der auf der Landstraße einen Feinkostladen samt Haubenrestaurant betreibt. Angeschlossen ist Wiens erste Stadtkäserei. Für ihn gibt es nichts Schöneres, als am Samstag einkaufen zu gehen, abends für Gäste zu kochen, gemeinsam Wein zu trinken. "Das ist ein sozialer Akt, den ich nicht missen möchte."

Auch im Lingenhel gibt es regelmäßig Käsekurse. "Es geht um ein Nachdenken, woher Lebensmittel kommen", sagt der Betreiber: "Für die Kursteilnehmer ist es ein Aha-Erlebnis, bei jedem Schritt dabei zu sein und am Ende einen Camembert-Rohling in Händen zu halten."

Eine Herausforderung

Die besondere Herausforderung einer Stadtkäserei liegt darin, dass die Milch erst angeliefert werden muss. Verlässliche Partner sind dabei wichtig wie der Kamptaler Büffelmozzarellaexperte Robert Paget, bei dem Johannes Lingenhel gelernt hat. Und viel Erfahrung. Die Käseherstellung in Wien war am Anfang ein Versuch mit unbestimmtem Ausgang. "Ich war total irritiert, als der fertige Käse nicht jeden Tag gleich schmeckte", erinnert sich Lingenhel. Dabei hatte er nichts im Ablauf verändert. Erst ein Anruf beim zuliefernden Bauern brachte Aufklärung: Es hatte den ganzen Tag geregnet, die Tiere bekamen nasses Gras, waren nicht auf der Weide. Natürlich verändert das ein Produkt.

Johannes Lingenhel ist ein Enthusiast wie viele, die leidenschaftlich über Essen reden: "Käsemachen ist keine Zauberei, wenn man gute Zutaten hat." Der Mehrwert, selbst, wenn man nach dem Kurs mit dem neuen Hobby nicht weitermacht: Je besser man sich mit einem Produkt auskennt, desto mehr schätzt man es. Die Freude, etwas Selbstgemachtes in Händen zu halten. Der Wunsch, sich gesund zu ernähren. In schwierigen Zeiten zumindest das Gefühl zu haben, das eigene Leben kontrollieren zu können.

Nattô-Haus in Graz

Das Praktische an Kursen, wie sie Lingenhel und Wild & Wunder anbieten, sind die unzähligen Tipps, die man sonst mühsam zusammentragen müsste. Man profitiert vom Expertenwissen. Tempeh, das Fermentationsprodukt aus Indonesien, muss nach dem Beimpfen mit Sporen in konstanter Wärme brüten. Muss man dafür ein neues Gerät anschaffen? Sirkka Hammer erklärt, wie man mit einer Wärmeflasche eine Brutbox basteln kann. Oder im Herd einfach die Beleuchtung anlässt. Und worauf man bei einem Dörrautomaten aufpassen muss. Am Ende dann, nachdem wir im Wild & Wunder jeden Schritt der Herstellung von Tempeh und Nattô durchgegangen sind, macht sich Hunger breit. Sirkka hat eine frische Erdnuss-Sauce zubereitet. Eingelegte Karotten, Gurken und Spargel stehen bereit, dazu Quinoa oder Reis. Und natürlich Kimchi.

Der Tisch biegt sich. Die Kursteilnehmer sind mehr als zufrieden. Vier Freundinnen, die extra angereist sind, bleiben noch länger entspannt sitzen. Auch Mario, der jeden Schritt mit seinem Computer dokumentiert hat, dreht jetzt den Strom ab. Er möchte in Graz ein Nattô-Haus errichten, erzählt er. Es soll eine Art Kunstprojekt werden. Essen ist eben viel mehr, als bloß Nahrung zu sich zu nehmen. (15.8.2020)