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Wir leben im Zeitalter permanenten Fortschritts, sind aber unsicher geworden, ob er uns tatsächlich noch nützt. Das gilt auch in Bezug auf die technischen Neuerungen, die einen Einfluss auf die Reisepraxis genommen haben. Welche sind ein wirklicher Gewinn, welche sind doppelgesichtig, welche zerstören gar, wonach man sucht? Ein Klassiker ist der skeptische Blick auf die Fortbewegung selbst, in der sich die Dialektik des Fortschritts besonders deutlich zeigt: Eine Vielzahl von Urlaubern bedient sich heute modernster Mobilitätstechnologien, um ebendieser Welt des Fortschritts für ein paar Tage den Rücken zu kehren! Das bizarre Motto: mit Vollgas dorthin, wo die Zeit stehengeblieben scheint – in Orte und Regionen, die sich als "Oasen der Entschleunigung" empfehlen.

Was man in vor- und frühindustriellen Zeiten "Reisen" nannte, ist heute in zwei Teile zerfallen, die kaum noch in Beziehung miteinander stehen: in die immer kürzer werdende, weil mit leistungsfähigen Transportmaschinen vollzogene Phase der An- und Abreise, und das mehr oder weniger stationäre Vorortsein am Reiseziel. Technikkritiker des 19. Jahrhunderts hatten dies als Untergang der Reisekultur gegeißelt: Statt sich in einer unserem Bewegungs- und Sinnesapparat angemessenen Weise durch die Welt zu bewegen, würde man "wie ein Projektil" an sein Ziel geschossen und damit dem durchreisten Raum (und sich selbst) entfremdet. Sollte man im Blick auf die durch den Coronavirus vorübergehend ins Stocken geratene Tourismusmaschinerie nicht wieder mal über die Argumente der damaligen Maschinenstürmer nachdenken?

Zwischen Wunsch und Erfüllung

Auffällig ist jedenfalls, dass sich archaische Reiseformen heute wieder größter Popularität erfreuen, mehrwöchige Pilgerwanderungen etwa, oder fußläufige Alpenüberquerungen – touristische Aktivitäten, die dem Mobilitätsfortschritt zu spotten scheinen. Künden sie womöglich von einer Entwicklung, die nicht weniger zukunftsweisend ist wie die allgemeine Beschleunigung, gegen die sie sich wenden?

In den 1970er-Jahren wäre das ein Ungedanke gewesen: Fortschritt war das Gebot der Stunde und die Langsamkeit des Fußgängers sein düsteres Gegenbild. Vergessen waren die lebensweltlichen Ursprünge des Fortschrittsbegriffs, die die Gebrüder Grimm in ihrem Deutschen Wörterbuch mit einem schönen Satzbeispiel verewigt haben: "Ich befand mich am Eingang eines weiten Raums, wo mein Fortschritt durch ein neues Hindernis gehemmt wurde." Das Kompositum meint hier, was es sagt: Man setzt einen Fuß vor den anderen, schreitet aus, kommt voran auf dem, was man seinen Weg nennt.

Der Mobilitätsfortschritt fordert eben seinen Preis: den Verlust des einstigen Kernstücks der Reise ...

Bis zur Ausbreitung mechanischer Fortbewegungsmittel waren "Reisen" und "Fortschritt" fast so etwas wie Synonyme, galt die Raumaneignung per Muskelkraft als Urbild und Inbegriff von Fortschritt. Wer zu Lande unterwegs war, schritt fort – von einem Ort zum nächsten, zu Fuß versteht sich, näherte sich seinem Ziel also autonom, langsam und bedächtig. Die Jakobspilger etwa, oder Gottfried Seume bei seinem Spaziergang nach Syrakus. Man musste sich den Gegebenheiten noch unvermittelt aussetzen, musste akzeptieren, dass zwischen Wunsch und Erfüllung noch Welten lagen, die erst einmal durchmessen werden mussten. Nichts wäre unmöglicher gewesen, als von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit zu springen und alles, was dazwischen lag, zu ignorieren. Reisen hieß noch nicht, es sich an seinem gebuchten und schnell erreichten Sehnsuchtsort ein paar Tage gut gehen zu lassen, sondern vor allem, auf dem Weg zu sein.

Hauptsache, schnell & günstig

Die Unterschiede zur heute dominierenden Mobilitätspraxis liegen auf der Hand: Wege und Zwischenräume sind für den Reisenden des 21. Jahrhunderts zur quantité négligeable geworden. Nicht nur die jungdynamische kosmopolitische Elite jagt nach "places to see", die man sich nicht entgehen lassen darf. Alles andere wäre Zeitverschwendung. Land und Leute? War einmal! Wie man hinkommt? Egal, Hauptsache schnell und günstig!

Die Grundlagen für diese Umwertung waren schon zu Grimmschen Zeiten gelegt – mit der Eröffnung der ersten Eisenbahnstrecken. Sie brachten dem Reisenden Erleichterungen, von denen man zuvor kaum zu träumen gewagt hatte. Allerdings wurde das neue Massentransportmittel hie und da auch skeptisch beäugt und gelegentlich sogar offen kritisiert. Der englische Kunstmaler John Ruskin befand nicht nur, dass das Vorwärtsgleiten auf schnurgeraden Schienensträngen hoffnungslos langweilig war, sondern auch dass es den Reisenden entwürdigte. Ohne Reiseerfahrung, belebende Außenweltkontakte und bleibende Eindrücke nähme er sich an seinem Zielbahnhof in Empfang – wie ein Paket, das man am Startpunkt aufgegeben hatte. "Das Reisen wird", schrieb Ruskin, "im genauen Verhältnis zu seiner Geschwindigkeit stumpfsinnig."

Wie immer man zu den radikalen Ansichten des passionierten Fußgängers auch stehen mag, er hatte die Doppelgesichtigkeit der mechanisierten Fortbewegung erkannt, hatte bemerkt, dass Fortschritte in der Transporttechnik den Horizont erweitern und einengen und sie das Reisen banalisieren.

Wo ist man eigentlich gewesen?

Mit der Erfindung der Dampflok hatte ein ganz neuer Abschnitt in der Geschichte des Reisens begonnen – eine Ära, in der sich Reisende nicht mehr als Teil des Raumes empfinden, durch den sie sich bewegen. Auch beim Auto zeigt sich diese Dialektik: "Der arme Autofahrer sitzt in seinem Blechbehälter, gefesselt an sein Steuerrad, ausgeschlossen von der belebenden Wechselwirkung mit den Weltkräften, getrennt von der Erde, ohne Eigenbewegung in seinem Miniatursalon", mahnte Ehrenfried Muthesius 1954. Der Mobilitätsfortschritt fordert eben seinen Preis: den Verlust des einstigen Kernstücks der Reise – und damit auch des Wissens, wo man eigentlich gewesen ist. Dieses Wissen lässt sich nicht anlesen oder ergoogeln. Es verlangt ein Zusammenspiel von Verstand und Sinnesapparat, entsteht nur durch die Kontinuität gelebter Raumerfahrung, die logischerweise mit der Fortbewegungsgeschwindigkeit abnimmt. "Nur wo du zu Fuß warst, bist du wirklich gewesen", schrieb Goethe.

"Nur wo du zu Fuß warst, bist du wirklich gewesen", schrieb Goethe
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Dass diese vielzitierte Sentenz mehr ist als eine hübsche Phrase, deuten die Reisetrends der letzten Zeit an, bei denen das Fortbewegungstempo bewusst verlangsamt wird. Allen voran gilt das für das populär gewordene Radwandern, bei dem man einem Fluss von der Quelle bis zur Mündung folgt. Und es gilt für die zahllosen Zeitgenossen, die heute einmal zu Fuß über die Alpen gehen wollen und es auch tun. Warum solche Mühen in Kauf genommen werden, ist klar: Egal ob man die Sache sportlich oder besinnlich nimmt, man kommt von seiner Alpentraverse mit Erfahrungen nach Hause, die über die Erfüllung von Leistungsbeweisen weit hinaus gehen. Schließlich hat man den durchquerten Raum als organische Einheit erlebt, hat mitbekommen, wie die Szenerie sich Schritt für Schritt verändert und zu welch unglaublichem "Fortschritt" der eigene Laufapparat befähigt.

Aber sind das alles nicht nur hilflose Rückzugsgefechte, die sich bald totgelaufen haben werden? Um das zu glauben, muss man ein lineares Geschichtsbild haben, an dessen Anfang der aufrechte Gang und an dessen Ende die Pauschalreise durch die Galaxis steht. Realistischer ist es, im aktuellen Verlangen nach fußläufigen Selbst- und Welterfahrungen das Moment eines gesellschaftlichen Fortschritts zu sehen – ein Anzeichen für die Überwindung einer kulturellen Phase, in der man sich von technischen Errungenschaften blenden und zugleich unter- und überfordern ließ.

Wege und Zwischenräume

Der allenthalben vernehmbare Slogan von der "Entdeckung der Langsamkeit" lässt jedenfalls erkennen, dass die klassischen Fortschrittsparameter Effektivität‚ Beschleunigung und Komfort im Zuge ihrer Verwirklichung immer belangloser werden. So zuverlässig der Schnelltransport auf Asphaltbahnen, Schienen und in der Luft den Aktionsradius des Urlaubers auch erweitert und seinen zweckpraktischen Sinn erfüllt, ein metaphysischer Mehrwert wird ihm kaum noch attestiert. Diejenigen, die sich ohne allzu große Anreise im Modus der Langsamkeit von Ort zu Ort bewegen wollen, mögen nach wie vor eine Minderheit sein, ihre Zahl nimmt jedoch kontinuierlich zu. Das heißt nicht, dass ein Großteil der Landsleute bald nur noch auf dem Drahtesel und auf Schusters Rappen unterwegs sein wird. Es heißt aber, dass eine Rehabilitierung der Wege und Zwischenräume stattgefunden hat, ein wachsender Teil der Bevölkerung ganzheitliche Mobilitätserlebnisse für unverzichtbar erachtet – selbst wenn man bei der Anreise und seinem jährlichen Haupturlaub nach wie vor der Logik der Zeit- und Kraftersparnis folgt.

In diesem Frühjahr stand die Lust, sich mit eigenen Körperkräften durch die Welt zu bewegen, vor einer unerwarteten Bewährungsprobe: Durch die Corona-Krise war der Aufbruch in ferne Welten undenkbar geworden. Monatelang ganz immobil zu bleiben gelang natürlich den wenigsten – und war ja auch nicht nötig. Umfragen belegen, dass die meisten derer, die in den Oster- und Pfingstferien das Weite suchen, ausgedehnte Wanderungen und Radtouren gemacht hatten, ausgerüstet mit einem kleinen Proviantrucksack, den man auf einer schön gelegenen Bank oder auf der Wiese auspackte. Das überraschende Ergebnis: Den meisten erschienen die Ausflüge durch Wald und Flur weniger als schale Notlösung denn als echte Bereicherung – trotz des allgemeinen Unbehagens in Bezug auf die Pandemie.

Selbstbeschwörung? Vielleicht. Vielleicht hat die Freude an der Erkundung des unbekannten Nahraums aber auch einen ganz einfachen Grund: In einem Lockdown ist mit der hektischen Betriebsamkeit der modernen Alltagswelt auch deren Rückseite mitverschwunden – der Zwang zum Ausbruch in die Ferne. Ohne es zu wollen, waren wir in den Genuss einer tröstlichen Dialektik gekommen: So groß der Frust über die Einschränkungen des gewohnten Aktionsradius auch gewesen sein mochte, er war mit dem seltsam befreienden Gefühl verbunden, nirgendwo hinzumüssen, eine Auszeit zu erleben vom gewohnten Freizeitstress, der vor allem eines ist: Spiegelbild einer beschleunigten Alltagswelt, in der niemand mehr zur Ruhe kommt.

Was immer die Pandemie noch bewirkt haben mag. Sie hat uns daran erinnert, dass man das Glück des Unterwegsseins auch ohne die Segnungen des modernen Flug-, Bahn- und Autoverkehrs erleben kann, Schritt für Schritt – in der einzigen Weise der Weltaneignung, die uns im wahrsten Sinne des Wortes auf den Leib geschnitten ist. Bleibt zu hoffen, dass wir das nicht gleich wieder vergessen werden. (Gerhard Fitzthum, 15.8.2020)