Pierre Jarawan
"Ein Lied für die Vermissten"
€ 22,90 / 464 Seiten
Berlin-Verlag, Berlin 2020

Bändigt einen vielschichtigen Stoff: Pierre Jarawan.

Berlin-Verlag

Vor vier Jahren schrieb sich Pierre Jarawan mit seinem Debüt in die deutschsprachige Literaturlandschaft. Als neue starke und angenehm unprätentiöse Stimme, die sowohl das schwierige Ankommen eines Migrantenkindes in einer fremden Gesellschaft als auch das Suchen nach den eigenen Wurzeln kraftvoll und kunstvoll thematisierte. Am Ende bleiben die Zedern wurde zum Bestseller, es folgten zahlreiche Preise und Auslandsaufenthalte.

Nun ist Jarawans zweiter Roman erschienen. Man konnte es schon in seinem ersten Buch spüren, wie sehr ihn die turbulente und tragische Geschichte des Libanon, die Heimat seines Vaters, umtrieb.

Aus diesem Antrieb ist nun Ein Lied für die Vermissten entstanden. Bereits nach den ersten Seiten ahnt man, wie komplex und vielschichtig dieser Stoff ist, den Jarawan bändigen musste, um ihn als eingängig und gleichzeitig packende Geschichte zu erzählen.

Zeit und Kraft

Und man erahnt, dass dieser Kunstakt einiges an Zeit, Kraft und graue Zellen in Anspruch genommen hat. Tatsächlich hat der ehemalige Slam-Poet drei Jahre an dem Buch geschrieben, in denen er auch mehrmals seinen Wohnsitz zur Recherche nach Beirut verlegte.

Im Mittelpunkt der verschachtelt konstruierten Geschichte, die über mehrere Episoden hinweg erzählt wird und dabei immer wieder in der Zeit vor oder zurückspringt, steht Amin. Er wächst bei seiner Großmutter Yara Elmaalouf auf, die mit ihm 1982 nach Deutschland geflüchtet war.

Im Libanon herrschte seit 1975 ein brutaler und blutiger Bürgerkrieg, der das einst so liberale Land bis 1990 in Atem hielt und folgenschwer traumatisierte. 1994 kehrt der Junge mit seiner Oma wieder nach Beirut zurück, um den Wiederaufbau des Landes mitgestalten zu können.

Die Großmutter ist eine eigenwillige und starke Frau, die ein Kunstcafé betreibt, aber zusehends in der Vergangenheit verharrt. Amin lernt den ehemaligen Direktor der völlig zerstörten Museumsbibliothek und durch ihn die Kraft von Büchern und gut erzählten Geschichten kennen.

Verführte Zuhörer

So erfährt der Vierzehnjährige auch die für den Libanon bedeutende Tradition des Geschichtenerzählens: "Die Hakawati sind Meister darin, ihre Zuhörer zu verführen. Sie nehmen die Rollen verschiedener Charaktere ein, spielen mit Akzenten und Dialekten, machen ihre Figuren lebendig. Und wenn die Spannung am größten ist, brechen sie ab und gehen nach Hause. ,Einfach so?‘ Einfach so. Es ist ein Trick. Sie machen süchtig."

Es geht viel um das Geschichtenerzählen, um die Bedeutung von Mythen, Legenden und Erinnerungen. Jarawan ist ein guter Erzähler, dem man gerne folgt, aber eine gewisse Straffung mancher Versatzstücke, die er auswirft und die sehr ausladend erzählt sind, hätte dem Roman gutgetan.

Man muss sich auch mit der sehr blumigen und detailverliebten Sprache arrangieren, die zwar die Sinnlichkeit der Erinnerung wachrufen soll, die Fortentwicklung des Stoffes aber zusätzlich beschwert.

Bei aller Erzählfreude stoßen einem auch manche Ausflüge in die kitschige Kalenderblattprosa auf ("Man bemerkt das Neue erst am Morgen nach dem Sturm.").

Trotz dieser Kinderkrankheiten entfesselt Jarawan eine packende Geschichte, die am zentralen Trauma des heutigen Libanon rührt.

Diese düstere Geschichte setzt sich im Laufe des Romans nach und nach aus unterschiedlichen Puzzlestücken zusammen: Es geht um die über 17.000 Menschen, die seit den Tagen des Bürgerkrieges vermisst werden, die bei einer Zigarettenpause oder bei einem Spaziergang mit Freunden einfach verschwunden sind. Ein Tabuthema, das bis heute nicht aufgearbeitet ist und für immer neuen Zündstoff im Nahen Osten sorgt.

Ein zweiter Teil des Romans wird daher aus der Sicht des Jahres 2006 erzählt, als wieder Bomben auf Beirut fallen. Diesmal ist es Israel, das Hisbollah-Stellungen im Libanon angreift. Ein dritter Strang ist zur Zeit des Arabischen Frühlings angesiedelt.

Hoffnung auf Zukunft

Amin stößt auf die Geschichten der Vermissten, weil viele, die sich im Café der Großmutter treffen, eben Geschichten von ihnen erzählen. Und bald wird klar, dass möglicherweise auch Amins eigene Familie von den Verbrechen betroffen ist.

Jarawan gelingen nimmer wieder Passagen von wuchtiger Emotionalität, beispielsweise wenn er die Freundschaft von Amin und Jafar auslotet, der bei aller Lebenskraft, die er verspürt, doch auch ein Opfer der Gewalt ist, die der Krieg über den Libanon gebracht hat.

Auch gelingt es dem Autor fast durchgehend, die sprachliche Ebene der Geschichte als eine Art Echokammer des inhaltlichen Strangs zu entwickeln, was in der Wechselwirkung der beiden Ebenen einen sehr lebendigen literarischen Organismus ergibt, durch den der Leser wie ein Zeitreisender wandelt.

Mit diesem tatsächlich sehr mutigen Roman zeigt Jarawan, wie schwierig und schmerzhaft die Aufarbeitung von solchen Verbrechen ist, da sie ein Gift freisetzen, das in den Leben der Angehörigen und der ganzen Gesellschaft weiterarbeitet.

Ein Gift, das eliminiert werden muss, wenn es Hoffnung auf eine Zukunft geben soll. Es ist damit auch ein wegweisender Roman, der das Potenzial hat, den Libanon zum Besseren zu verändern. (Ingo Petz, 14.8.2020)