Nell Zink
"Das Hohe Lied". Übersetzt von Tobias Schnettler
€ 25,70 / 510 Seiten
Rowohlt-Verlag, 2020

US-Autorin Nell Zink lebt seit Jahren in Bad Belzig bei Berlin

Foto: Francesca Torricelli

Aus Nell Zinks erstem Romantitel The Wallcreeper wurde in der Übersetzung, wenig überraschend, Der Mauerläufer, mit dem die US-Autorin 2014 schlagartig, da war sie fünfzig, bekannt wurde. Auch ihr zweiter Titel Nikotin brauchte wenig Übersetzungsspielraum. Anders bei Mislaid, der dritte Roman, der 2019 auf Deutsch unter dem Titel Virginia erschien, übrigens jener US-Staat, in dem Zink aufgewachsen ist. "Mislaid" heißt übersetzt so viel wie "verlegt", aber, wie Zink in einem STANDARD-Interview lachend erklärt hat, auch: "vom Falschen flachgelegt".

Jetzt erscheint Zinks vierter Roman in Übersetzung. Das englische Wort "Doxology" bedeutet übersetzt "Lobgesang", "Lobpreisung Gottes" in der christlichen Liturgie. Ein geläufiges Beispiel: "Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen." Dass sich Zink oder ihr deutscher Verlag für den Titel Das Hohe Lied entschieden haben, ist vielleicht zeitgemäßer und weniger streitbar. Denn beim "Hohelied" handelt es sich um eine Sammlung von erotischen Liebesliedern aus dem Alten Testament, in denen "das Sehnen und gegenseitige Lobpreisen zweier Liebender geschildert wird", erklärt Wikipedia. Auch darum geht es in Zinks neuem Roman.

Und um noch viel mehr: Das Hohe Lied ist ein ehrgeiziges Romanprojekt und erweckt schon durch seinen Umfang von gut 500 Seiten Assoziationen mit Nell Zinks Entdecker Jonathan Franzen (Die Korrekturen, Freiheit). Auch weil sich das Buch, das sich zuerst wie ein Musikroman liest, in dem sich Pam, Daniel und ihr Freund Joe Harris Ende der 80er-Jahre an der Lower East Side als schlechte Punkband zusammentun, sich zu einem US-Familienroman über drei Generationen auswächst, der einen Rückblick auf die jüngste US-amerikanische Geschichte wirft, vom Zweiten Golfkrieg Anfang der 1990er über 9/11 bis hin zum Beginn der Präsidentschaft von Donald Trump.

Musik, Sex und Politik

Nell Zink, wie man mittlerweile weiß selbst reich an Lebens-, Berufs- und Menschenerfahrung, erzählt intelligent, detailreich und stets mit scharfem Humor über die Transformationsprozesse gemeinsamer Leben – innerhalb der gewählten und der genetischen Familienbande: Musik, Sex und Politik, ungeplante Schwangerschaften, Wahlkampfkampagnen, Ökologie oder Digitalisierung. Woher sie das alles hat, denkt man immer wieder beim Lesen. Zink schreibt über Menschen, mit denen sie sich offensichtlich gut auskennt: Pam programmiert und Daniel lektoriert, um sich über Wasser zu halten, sie bekommen eine Tochter, und Joe, der wilde Träumer, mit dem Vater, der Geld hat, wird zum Musiksuperstar, bis es am 11. September 2001 in New York nicht nur zur größtmöglichen US-amerikanischen Katastrophe kommt, sondern auch zu einer individuellen für Zinks Protagonistentrio. Joes Selbstmord, der keiner war, wirft einen langen Schatten.

Doxology ist also auch ein Post-9/11-Roman. Dieser Cut teilt auch Das Hohe Lied in ein Vorher und ein Nachher. Das Buch mutiert vom Musikroman aus der New Yorker Underground-Ära zum Bildungsroman, in dem es um die Entwicklung von Pams und Daniels Tochter Flora geht, die als Folge von 9/11 nicht mehr in NYC aufwächst, sondern gutbehütet bei den Großeltern (Ginger und Edgar) in Washington. D.C., mit denen Pam lange keinen Kontakt hatte.

Privatschulen und Umweltschutz

Jetzt geht es um gute Privatschulen und Floras zunehmendes Interesse als Millennial für Umweltthemen bis hin zu ihrem Beschluss einer gleichsam löblichen wie auch naiven Mission: dem Wirtschaftswachstum ein Ende zu bereiten. Sie landet bei den nicht gerade einflussreichen US-Grünen und in einer Beziehung mit einem älteren demokratischen Wahlkampfstrategen. Zunächst.

Solche Generationenbilder zu entwerfen und deren -konflikte zu beschreiben, ist die große Stärke des Romans. "Ihr Gender ist Kakerlake. Sie isst Croissants im Bett", sagt Flora über ihre Ex-Punk-Mum, die ist in der Zwischenzeit durch einen Start-up-Verkauf doch noch zu Geld gekommen, aber die eigene Tochter ist ihr dennoch zu konventionell geraten. Diese hat wiederum Angst, dass ihre Mutter sie für ein "Hausmütterchen" hält, nur weil sie die verdreckten elterlichen Loft-Fenster putzt. Dass sich der sehr amerikanische Roman in der Originalfassung flüssiger liest, liegt auf der Hand: "Her gender is cockroach" klingt noch einmal authentischer.

Die zweite Hälfte des Romans ist stellenweise langatmiger als der Romanbeginn, auch das passt in das Selbstverständnis der beschriebenen Generationen. Erst als Flora klar wird, dass sie selbst nicht wusste, wer der Vater des Babys in ihrem Bauch ist, wird die Sache wieder spannend. Zinks Roman will, so scheint es, manchmal nur ausleuchten, was ist. Zu konventionell? "A quirky genius trying to behave her best at dinner table", schreibt eine Leserin auf Goodreads im Netz über Zink und den Roman. Aber so ist die Welt geworden, will man entgegnen. Hochkomplex und sehr durchschaubar. Und Nell Zink hat die Nase schon im Wind. Keine Pandemie, aber eine radioaktive Wolke macht der schwangeren Flora Sorgen. Was bleibt uns am Ende? Die Familie als Zufluchtsort. In Ewigkeit. Amen. (Mia Eidlhuber, 14.8.2020)