Philippe Narval ist seit 2012 Geschäftsführer des Europäischen Forums Alpbach.

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Das Jahr 2020 ist von der Corona-Pandemie geprägt. So gut wie alles hat sich verändert. Nach dem großen Lockdown tragen die Menschen Masken, sollten sich nicht zu nahe kommen. Deshalb wurden auch die meisten Großveranstaltungen abgesagt. Das Europäische Forum Alpbach, etablierter Treffpunkt für europaoffene Meinungsführer, findet aber trotzdem statt.

STANDARD: Neben den Salzburger Festspielen wagt auch das Europäische Forum Alpbach einen Vorstoß und lädt wie gewohnt zu den Gesprächen in das Tiroler Bergdorf. Warum riskieren Sie das?

Narval: Vielleicht vorneweg: Dieses Jahr ist das Forum keine Großveranstaltung. Früher kamen 5000 Teilnehmende, dieses Jahr werden nie mehr als 200 Leute gleichzeitig physisch am Forum Alpbach präsent sein. Wir haben alles, was möglich war, ins Internet verlegt und beschreiten dieses Jahr mit dieser hybriden Form der Veranstaltung komplettes Neuland.

STANDARD: Hybrid? Was bedeutet das genau?

Narval: Unser Stipendiatenprogramm, zu dem immer Studierende aus ganz Europa kommen, findet online statt. Es ist uns aber auch gelungen, viele hochkarätige Vortragende zu gewinnen, nach Alpbach zu kommen. Es gibt eine Art Fernsehstudio, aus dem wir unser Programm im Internet übertragen. Umgekehrt wird aber auch aus der Welt nach Alpbach gesendet. Wir haben Hubs in vier Kontinenten, die in Veranstaltungen eingebunden sind.

STANDARD: Warum gibt es das Forum eigentlich nicht nur online?

Narval: Wir haben die Entscheidung, Alpbach stattfinden zu lassen, zu Ostern also gleich nach dem Lockdown auch als ein Zeichen von Stabilität gefällt. Das Europäische Forum Alpbach wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, wir feiern insofern auch unser 75-jähriges Jubiläum. Gleichzeitig fühlen wir uns auch unseren Gastgebern in Alpbach verpflichtet. Der dritte Grund: Die Welt ist im Umbruch, und unsere Veranstaltung ein Beitrag zur Standortbestimmung. Wir fühlen uns also dem Grundgedanken dieser Veranstaltung mehr denn je verpflichtet.

STANDARD: "Fundamentals" ist heuer das Motto. Warum dieser reichlich vage Titel?

Narval: Es geht um die Fundamente unserer Gesellschaft, und ich denke, dass derzeit heftig daran gerüttelt wird. Und genau das ist auch unser Thema. Es ist so vieles in diesem Jahr passiert. Mit dem Brexit ist die Einheit Europa infrage gestellt, es geht aber auch um Länder in Europa, in denen die Grundrechte in Gefahr sind. Die Corona-Epidemie hat jedem Einzelnen noch viel stärker die Verwundbarkeit unserer Welt gezeigt. Die Situation heute ist in etwa so wie nach dem Zweiten Weltkrieg, also dem Gründungsjahr des Forums.

STANDARD: Wie meinen Sie das genau?

Narval: Nach Ende des Zweiten Weltkriegs musste sich Europa zusammenraufen, musste seinen Multilateralismus überwinden. Die Situation ist derzeit ein wenig vergleichbar. Mit den Entwicklungen in Ungarn oder Polen stehen die Demokratie und die Grundrechte zur Diskussion, Populismus ist weltweit ein Riesenthema. Wir haben durch das Europäische Forum Alpbach ein Netzwerk von Experten, in dem diese wichtigen Fragen erörtert werden. Dabei bleiben wir unserem lösungsorientierten Ansatz treu. Wir ordnen Probleme ein. Europa driftet gerade auseinander. Das Forum soll ein Ort sein, an dem sich Menschen treffen, die Meinungsmultiplikatoren sind, und richtungsweisende Frage diskutieren.

STANDARD: Wer kommt?

Narval: Wir konnten auch heuer wieder die Entscheidungsträger aus vielen unterschiedlichen Bereichen gewinnen. Nicht alle werden vor Ort sein, einige werden remote wie in einem Fernsehstudio dazugeschaltet werden. Doch in jedem Fall wird es die Möglichkeit geben, mit den Vortragenden in Interaktion im Chat zu treten. Zum Beispiel mit António Guterres, dem UN-Generalsekretär.

STANDARD: Die Gesundheitsgespräche machen wie jedes Jahr den Auftakt. Allerdings beeinflusst das Coronavirus alle Bereiche. Wie tragen Sie dem Rechnung?

Narval: Covid-19 wird sicher das zentrale Thema sein. Den Auftakt wird Hans Henri Kluge, WHO-Regionaldirektor Europa, machen. Wir wollen versuchen, Klarheit in Debatten zu bringen, und werden alle relevanten Themen von Pandemie-Management über Gesundheitsversorgung bis zu den politischen und wirtschaftlichen Fragen erörtern.

STANDARD: Eine uferlose Debatte …

Narval: Aber wir vergleichen das Krisenmanagement in den unterschiedlichen Ländern, schauen nach Asien und dort nach Hongkong und Taiwan, aber auch nach Indien. Diese Vergleiche zeigen alternative Wege auf, bringen neue Ideen. Wir sind ja mitten drinnen in der Pandemie und müssen alle erst lernen, mit den neuen Problemen zurechtzukommen. Covid ist in Wirklichkeit eine Querschnittsmaterie. Nach 75 Jahren Forum Alpbach werden wir neue Wege gehen – mit viel Aufwand und viel Engagement –, und in Wirklichkeit können mehr Menschen als bisher dabei sein. Das Internet steht jedem offen. Darauf hoffen wir. (Karin Pollack, 16.8.2020)