"Alles, was ein Gemeinwesen zusammenhält, Werte, Prinzipien und Haltungen, gerät ins Rutschen, wenn dem Zweck des Machterhalts alles andere untergeordnet wird", so der ehemalige Bundeskanzler Christian Kern im Gastkommentar.

Die westlichen Demokratien stehen vor einer existenziellen Herausforderung. Der Zustand der demokratischen Öffentlichkeit, also wie im politischen Raum kommuniziert wird, hat eine besorgniserregende Form angenommen. Die Diskurszerstörung war in der Vergangenheit meist rechtsradikalen Parteien vorbehalten. Mittlerweile ist sie zum bevorzugten Mittel von Regierungsspitzen geworden, auch in Österreich.

Fakten und Fiktion

Demokratie braucht eine Öffentlichkeit, die sich in bestimmten Bahnen und Regeln bewegt. Es ist die wichtigste und vornehmste Aufgabe der Presse, Fakten von Fiktion zu unterscheiden und eine Grundlage zu schaffen, damit die Bevölkerung auf Informationen basierende Entscheidungen fällen kann. Doch diese Aufgabe nehmen Journalisten in etablierten Medien zunehmend weniger wahr – aus Sorge um Karrierechancen, aus falsch verstandener Sehnsucht, zur Machtelite gehören zu wollen oder zumindest von dieser geschätzt zu werden. Aber klar ist, das Umfeld für Journalisten ist härter geworden.

Millionengeschenke an regierungsfreundliche Medien, die Veröffentlichung der persönlichen Daten eines kritischen Journalisten, die Ablöse eines unliebsamen Chefredakteurs auf Kanzlerwunsch, ein Regierungsapparat, der so enorm angewachsen ist, dass jedem innenpolitischen Journalisten zwei, vielleicht sogar drei Regierungspressearbeiter gegenüberstehen – das ist politischer Alltag in Österreich 2020. Zumindest in den breitenwirksamen Medien verfügt die Regierung – oder besser die ÖVP – nahezu über ein Kommunikationsmonopol, das ohne Rücksicht durchgesetzt wird.

Bloßer Machterhalt

Natürlich bemüht sich jede Regierung um eine gute Presse. Worum es an dieser Stelle aber geht, ist eine tiefergehende strukturelle Verschiebung. Es geht um die systematische Aushöhlung eines Grundpfeilers unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung. In meiner Zeit in der Politik habe ich verstehen gelernt, wie zerstörerisch es ist, wenn der Zweck die Mittel heiligt. Alles, was ein Gemeinwesen zusammenhält, Werte, Prinzipien und Haltungen, gerät ins Rutschen, wenn dem Zweck des Machterhalts alles andere untergeordnet wird.

"Flood the zone with shit" ist eine Taktik, die sich "clevere" Kommunikationsexperten von der amerikanischen radikalen Rechten abgeschaut haben: Antworte nicht auf Fragen, führe demokratische Kontrolle als Sache für Naivlinge vor, verleumde die Justiz als parteiisch, mach dir die Presse gefügig, gib ja keinen Fehler zu und reagiere auf jede Kritik mit einer Gegenattacke.

Vernebeln mit Konsequenz

Der Ibiza-Untersuchungsausschuss hat das türkise Machtsystem fein säuberlich dekonstruiert. Natürlich ist es das oberste Kommunikationsziel des Kanzleramtes, diesen Eindruck zu vernebeln. Und das mit Konsequenz. Statt über Korruption wird über Benimmregeln diskutiert. Statt über die demokratiepolitisch bedenkliche Ignoranz des Hohen Hauses, über Wurstsemmeln und Four-Letter-Words. Das Parlament ist ein Tollhaus, und Politiker sind sowieso alle gleich – das ist das, was ankommt. Die PR-Kolonnen in ÖVP und Kanzleramt haben aus ihrer Sicht alles richtig gemacht.

Ob Themensetzung oder Ladungsliste – viel Zank im Ibiza-U-Ausschuss.
Foto: APA / Helmut Fohringer

Die Wahrheit ist der erste Verlierer im Kommunikationskrieg. Diskreditiert werden besonders jene Institutionen, deren Aufgabe es ist, Fakten ans Licht zu bringen, unsere Freiheit zu schützen und der Regierungswillkür Grenzen zu setzen – der U-Ausschuss, die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, die kritische Presse.

Der Zynismus gegenüber diesen, für eine Demokratie essenziellen, Einrichtungen erodiert die liberale demokratische Ordnung. Dazu braucht es gar keine Fake-News, keine großflächigen Lügen. Es reicht, eine unüberschaubare Zahl an Andeutungen zu produzieren. Die Verunglimpfung, das wahllose Zitieren falscher Vorwürfe, das rasche Hochziehen anderer Themen (vorzugsweise Ausländer), wenn es eng wird, reicht, um die Mehrzahl der Bürger restlos zu verwirren. In dem "information-overload" finden sich vielleicht noch die Politikwissenschafter zurecht, aber gewiss nicht mehr der Souverän, die Bevölkerung.

Hauptsache, ein Feindbild

Ziel der Populisten ist nicht der Zusammenhalt der Gesellschaft, sondern die Zuspitzung. Nichts funktioniert im Social-Media-Zeitalter so gut, wie Angst zu schüren und Freund-Feind-Schemen zu strapazieren. Da wir, dort die anderen. Flüchtlinge, Arbeitslose, die EU – was auch immer, Hauptsache ein Feindbild. Die Polarisierung ist nicht geduldeter Nebeneffekt, sondern Schmiermittel ihrer Strategie.

Der Populismus ist keine Ideologie, sondern eine Kommunikationsstrategie. Er hat keine Werte, er hat Umfragen. Die werden regelmäßig ins Kanzleramt geliefert und gelten als Ultima Ratio. Daraus entsteht ein Politikmix der rechts und links vereint, der neoliberale Elemente und im selben Atemzug staatsinterventionistische Züge aufweist. Damit lösen sich die klassischen konservativen Parteien auf. Zwischen Margaret Thatcher und ihrem späteren Nachfolger Boris Johnson liegen politische Welten, zwischen Ronald Reagan und Donald Trump gibt es wenig politische Kontinuität und ebenso zwischen Sebastian Kurz und Wolfgang Schüssel. Es geht nicht mehr um das Durchsetzen eines politischen Wertekanons, sondern um die flexible Adaption der jüngsten Meinungsbefragungen in der Tagespolitik.

Medien als Opposition

Die Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager ist willkommen, weil sie Kurz, Johnson, Trump gegen Kritik immunisiert. Die Lager ihrer Befürworter und Gegner leben in verschiedenen Welten. Im ständigen Lärm der tagespolitischen Auseinandersetzung ist eine Einordnung der Aktivitäten und Ankündigungen der einzelnen Protagonisten kaum noch möglich. Was zählt, sind Image und Beliebtheitswerte – man glaubt dem, den man sympathisch findet.

Stephen Bannon, Trump-Berater der ersten Stunde und Erfinder der Strategie "Flood the zone with shit", hat seiner Analyse hinzugefügt: "Die wirkliche Opposition sind die Medien." Es geht also darum, den Amtsträger gegen jede Form der Kritik zu immunisieren, mit dem erklärten Ziel, die kritische Presse auszuschalten. Die Frage, in welcher Demokratie wir in Zukunft leben werden, in einer liberalen oder in einer illiberalen nach Orbán’schem Zuschnitt, entscheidet sich demnach auch anhand der Frage der Leistungsfähigkeit unserer Medien, Zeitungen und Onlineblogs. (Christian Kern, 14.8.2020)