Bühnenbild für Revolutionen und andere Umwälzungen: "Orientation in 100 Revolutions" (100 Quadratmeter). (

Foto: Daniel Jarosch

Mit einem Mund-Nasen-Schutz kommt man derzeit nicht nur zur Kunst, man begegnet ihm vermehrt auch in der Kunst. Das Motiv der Maske erfährt ein Corona-bedingtes Revival, mitunter fragt sich dabei allerdings, was uns das über die bloße Illustration eines Zeitphänomens hinaus zu sagen hat. Bei Siniša Ilić sind es unter anderem Masken-Papierschnitte, die auf die jüngsten Ereignisse Bezug nehmen. Vielsagender ist jedoch eine Reihe von Zeichnungen, die während des Lockdowns in seiner Heimatstadt Belgrad entstanden sind: Fragmente von Social Distancing und polizeilicher Kontrolle tauchen da neben vereinsamten Konsumgütern auf, die ihrer Käufer verlustig gegangen sind.

Warenfetischismus und Klassenhierarchien

Womit Ilić, Jahrgang 1977, an jene Themen anknüpft, die auch das von ihm in den Nullerjahren mitbegründete Belgrader Kollektiv Walking Theory mit interdisziplinärem Ansatz und ausgeprägtem Hang zum Aktivismus beackert hat: Es geht um Kritik an neoliberaler Ideologie, Kapitalismus, Warenfetischismus, Klassenhierarchien, formuliert aus der Perspektive einer Generation von Künstlern und Theoretikern, die ihre Erfahrungen mit dem jugoslawischen Sozialismus, dessen Zusammenbruch und den darauf folgenden Entwicklungen gemacht hat.

Siniša Ilić, Orientation in 100 Revolutions, 2017, Detail.
Foto: Siniša Ilić

Unter dem Titel Un_controlled Territories stehen im Kunstraum Innsbruck nicht zuletzt Ilićs Auseinandersetzungen mit der politischen Aufladung von Landschaften im Fokus. Zwangsläufig erhalten auch sie unter dem Corona-Brennglas eine zusätzliche Dimension. Das fängt bei Reisebeschränkungen an, die die Realisierung der Schau erschwert haben, und führt auch auf einen schmelzenden Tiroler Gletscher.

100 Quadratmeter Revolution

Dort "aktivierte" Kunstraum-Leiterin Ivana Marjanović zusammen mit ein paar Mitstreitern vor wenigen Wochen jenes mit visuellen Avancen an die russische Avantgarde bedruckte, hundert Quadratmeter große Stück Stoff, das Orientation in 100 Revolutions verspricht. Die Arbeit entstand 2017 anlässlich von 100 Jahren Oktoberrevolution in Kooperation mit dem serbischen Theatermacher Bojan Djordjev und ist zugleich Bühnenbild und Performance-Requisite. Wovon man zumindest in einer Videodokumentation eine Ahnung bekommt: ein wilder Ritt durch Revolutionen, Unruhen und gesellschaftliche Umwälzungen, die die Künstler als Aufruf zu kritischem Denken und Handeln verstehen.

Mangels der Möglichkeit, in situ zu arbeiten, schickte Ilić außerdem Skizzen sowie die digitale Reproduktion eines vor ein paar Jahren entstandenen Wandgemäldes: Von radikal reduzierten Szenen aus der Dienstleistungsindustrie bleiben in Class Society nur noch fragmentierte Körperhaltungen, nämlich das Dienen und Bücken übrig.

Zwischen atmosphärischer und archäologischer Erkundung einer Gesellschaft im Übergang bewegen sich die visuellen Streifzüge, die Ilić durch modernistische Gebäude aus der sozialistischen Ära unternimmt. Etwa durch das ehemalige Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Rijeka oder das Museum für Afrikanische Kunst in Belgrad, das 1977 auf Initiative eines im Dienst der blockfreien Bewegung in Afrika tätigen jugoslawischen Diplomatenpaares gegründet wurde. Und heute kaum weniger Fragen zu kolonialer Ausbeutung aufwirft als ähnliche Institutionen. (Ivona Jelčić, 19.8.2020)