Frage: Worum ging es bei den Verhandlungen, die Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) am Mittwoch einleitete?
Antwort: Darum, dass die Krankenkassen weiterhin die medizinischen Leistungen für die Millionen Versicherten bezahlen können. Denn laut Prognose soll das Defizit aller fünf Sozialversicherungsträger heuer 619 Millionen betragen, 2024 könnte das Minus aufs Jahr gerechnet bereits die Milliardengrenze sprengen. Besonders betroffen ist davon die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), die allein mit einer Lücke von 447 Millionen für das laufende Jahr rechnet. Deren Vertreter waren auch als Erste bei Anschober zu Gast.
Frage: Warum hat sich dieses Budgetloch aufgetan?
Antwort: Die entscheidende Ursache ist der Lockdown im Zuge der Corona-Krise, der die Arbeitslosenrate emporschnellen ließ. Die Kasse bezieht ihr Geld aus Pflichtbeiträgen der Werktätigen, Dienstnehmer und Dienstgeber liefern jeweils 3,78 Prozent eines Angestelltenentgelts ab. Für arbeitslose Menschen zahlt der Staat zwar weiter, doch bemessen sich die Beträge dann am niedrigeren Arbeitslosengeld – für die ÖGK bedeutet dies einen herben Einnahmenverlust. Dazu kommt eine große Unbekannte, die in der aktuellen Prognose noch gar nicht einkalkuliert ist: Die Kasse hat angeschlagenen Unternehmen Stundungen – sprich: Zahlungsaufschub – gewährt. Doch erst gegen Jahresende wird sich zeigen, wie viele davon die Rechnung begleichen können oder letztlich doch pleitegehen.
Frage: Gibt es noch weitere Gründe?
Antwort: Es kommt darauf an, wen man in den Sozialversicherungen, wo sowohl (türkise) Arbeitgebervertreter als auch (rote) Arbeitnehmervertreter mitmischen, fragt. Die Gewerkschafter beklagen, dass die alte ÖVP-FPÖ-Regierung bei der von ihr durchgesetzten Fusion der früher 21 Sozialversicherungsträger auf fünf nicht nur die Macht zu den Arbeitgebern verschoben hat, sondern der ÖGK auch eine Reihe ungerechtfertigter Mehrkosten aufgebürdet habe. Die türkise Seite hingegen moniert, dass die Gebietskrankenkassen vor der Fusion über ihre Verhältnisse Geld ausgegeben hätten.
Frage: Ziehen die Kontrahenten denn nun zumindest in der Krise an einem Strang?
Antwort: Den öffentlichen Wortmeldungen nach zu schließen war das bisher nicht der Fall. Seit der Fusion scheint das Klima vergiftet zu sein, die Kontrahenten liefern sich regelmäßig Wortgefechte via Medien. Die Arbeitnehmerseite warnte im Verein mit der SPÖ immer wieder vor angeblich drohenden Einschnitten bei der medizinischen Versorgung, Beitragserhöhungen und Privatisierungen von Gesundheitseinrichtungen, die Arbeitgeberseite stempelte dies als Panikmache ab.
Frage: Ist es denn denkbar, dass die Kasse manche medizinischen Leistungen einfach nicht mehr bezahlt, weil ihr das Geld fehlt?
Antwort: Die ÖGK hat tatsächlich Spielraum, um gegenzusteuern. Zum Beispiel könnte die Versicherung strenger bei der Bewilligung von Kuren und anderen Maßnahmen vorgehen – oder auch mehr und höhere Selbstbehalte einführen, wie es sie etwa bei Heilbehelfen längst gibt. Dies liefe auf nichts anderes als die vielgeschmähten Leistungskürzungen hinaus. Doch wahrscheinlich ist dies nicht.
Frage: Wieso?
Antwort: "Patienten können davon ausgehen, dass es Sicherheit gibt, dass es keine Leistungskürzungen gibt", hatte sich Minister Anschober bereits vor den Gesprächen festgelegt, die ÖVP hat zumindest nicht widersprochen. Nach dem Treffen versprach der Ressortchef, für die ÖGK heuer einen "dreistelligen Millionenbetrag" lockerzumachen, auch für 2021 und 2022 soll Geld fließen. Die Zeichen stehen also gut, dass die Regierung die Löcher in den Sozialversicherungen zu einem Gutteil mit Steuergeld stopft.
Frage: Ist das in der Vergangenheit schon einmal passiert?
Antwort: Ja, nachdem die Krankenkassen in den 2000er-Jahren Schulden angehäuft hatten. Die damals schwarz-rote Regierung half mit einem hunderte Millionen dicken Sanierungspaket aus. (Gerald John, 19.8.2020)