In der belarussischen Hauptstadt Minsk protestierten Menschen gegen den Präsidenten Lukaschenko.

Foto: Imago
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Dies ist ein computergeneriertes, auszugsweises Transkript zu Testzwecken. Derzeit erwägen wir Möglichkeiten, wie und ob wir künftig ausgewählte Podcasts auch in schriftlicher Form anbieten können. Die Aufnahme ins reguläre Angebot hängt unter anderem vom Leserinteresse ab. Feedback zu diesem Angebot nehmen wir gerne im Forum entgegen!

Antonia Rauth: [00:00:18] In Belarus rebelliert die Bevölkerung. Seit Wochen wird gegen den Diktator Alexander Lukaschenko protestiert, nachdem dieser sich bei der Wahl zum Sieger erklärt und somit erneut zum Präsidenten gekürt hat. Ob die Proteste das Regime Lukaschenko nach 26 Jahren alleiniger Herrschaft wirklich stützen können und welchen Einfluss die EU dabei haben könnte, erklärt André Ballin, Russland Korrespondent vom STANDARD. André, in Belarus gehen die Menschen seit mittlerweile zwei Wochen auf die Straße. Ausgelöst hat die Proteste die Präsidentschaftswahl. Kannst du vielleicht kurz zusammenfassen, was sich seitdem zugetragen hat und warum die Menschen das Ergebnis dieser Wahl so wütend macht?

André Ballin: [00:00:55] Dazu muss ich sagen, dass die Unzufriedenheit schon vor der Präsidentenwahl größer war als in den Vorjahren. Es hat mit wirtschaftlichen Gründen zu tun, aber auch mit dem Handling Lukaschenkos in der Krise. Dass er dann vor der Wahl alle vermeintlich starken Herausforderer entweder ins Gefängnis gesteckt oder außer Landes getrieben hat, bewirkte einen "jetzt erst recht"-Effekt, sodass viele Menschen tatsächlich für die einzig verbliebene Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja gestimmt haben. Dass Lukaschenko sich dann völlig unverfroren trotzdem die üblichen 80 Prozent zuschreiben ließ, hat das Fass zum Überlaufen gebracht und die Menschen auf die Straße. Zuerst waren es die politisch Aktiven, die auf die Straße gegangen sind. Aber nachdem die Polizei wahllos auf die Demonstranten eingeprügelt hat, sind eben auch andere auf die Straße gegangen, weil sie einfach die Nase voll hatten.

Antonia Rauth: [00:01:42] Seitdem haben sich die Proteste ja wirklich über weite Teile des Landes und eigentlich auch alle Schichten der Bevölkerung ausgedehnt. Wie würdest du denn die Lage im Moment in Belarus beschreiben?

André Ballin: [00:01:52] Wir sind jetzt in der unklarsten und gefährlichsten Phase des ganzen Prozesses. Zuerst hat sich der Protest gegen Lukaschenko eben auch wegen des brutalen Vorgehens der Sicherheitskräfte lawinenartig verstärkt. Am Sonntag haben wir gesehen, dass bis zu 200 000 Menschen im Zentrum von Minsk demonstrieren waren, und die Streiks haben sich immer mehr ausgeweitet. Und es schien, das System muss jetzt zusammenbrechen. Aber Lukaschenko will die Krise aussitzen. Er lehnt Verhandlungen mit der Opposition ab und ebenso auch Neuwahlen. Aber gestern und heute waren gewisse Ermüdungserscheinungen bei den Menschen auf der Straße spürbar. Der Elan ist weg. Wenn die Opposition keine neuen Wege findet, den Druck zu erhöhen, kann das Pendel auch wieder umschlagen.

Antonia Rauth: [00:02:36] Alexander Lukaschenko ist in Belarus seit 26 Jahren an der Macht. Er wird auch immer wieder "der letzte Diktator Europas" genannt. Warum rebelliert die Bevölkerung gerade jetzt?

André Ballin: [00:02:53] Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Dafür gibt es wohl keinen einen einzigen Grund. Es ist ein Sammelsurium vieler Gründe, und die 26 Jahre, von denen du gesprochen hast, dürften wohl einer davon sein. Das Volk hat ihn einfach gründlich satt. Und dazu kommen dann die von mir schon genannten wirtschaftlichen Probleme plus Corona. Und wir sollten eins nicht vergessen: Es ist inzwischen eine völlig neue Generation aufgewachsen in Belarus. Die wirklich gravierenden Probleme der 90er haben sie nicht erlebt. Dafür sehen sie aber die Stagnation der letzten Jahre. Und sie gucken kein Fernsehen wie ihre Eltern, sondern suchen ihre Informationen im Internet. Und da fehlt Lukaschenko dann eben die Chinesische Mauer, also die totale Kontrolle über das Netz.

Antonia Rauth: [00:03:40] Lukaschenko ist ja anfangs sehr hart gegen die Demonstranten vorgegangen. In der ersten Woche hat es Tausende Verhaftungen und auch eine brutale Vorgehensweise gegen die Demonstranten gegeben. Seit dem Wochenende hat er seinen Kurs geändert. Wie geht er denn jetzt damit um?

André Ballin: [00:03:57] Das ist gerade ein sehr interessanter Punkt. Wir stehen nämlich an einem Scheidepunkt, würde ich sagen. Nachdem er gesehen hat, dass die Brutalität nur neue Demonstrationen erzeugt, hat er tagelang eine weichere Linie bevorzugt. Doch gerade heute gab es wieder eine große Anzahl an Meldungen, dass die Polizei Leute, die vor Fabriken demonstrieren, auseinander treibt. Mehrere Personen sind festgenommen worden. Das ist ein Signal, dass Lukaschenko meint, möglicherweise wieder fester im Sattel zu sitzen.

Antonia Rauth: [00:04:25] Das heißt, im Moment sieht es aus, als würde er versuchen, die Proteste doch noch gewaltsam niederschlagen zu lassen?

André Ballin: [00:04:30] Vielleicht nicht gleich gewaltsam, aber er versucht zumindest, den Druck zu erhöhen und zu sehen, wie die Opposition reagiert. Wenn es daraufhin wieder mehr Proteste gibt, wird er das vielleicht wieder sein lassen. Aber wenn sie ihm das durchgehen lassen, dann könnte ich mir vorstellen, dann geht es auch wieder auf die harte Tour.

Antonia Rauth: [00:04:48] Opposition ist schon ein gutes Stichwort: Lukaschenkos Wahlgegnerin Swetlana Tichanowskaja hat sich nach der Wahl ja nach Litauen abgesetzt, aus Sorge um ihre Sicherheit. Wer ist sie und hätte sie nach einem Sturz Lukaschenkos unter Umständen Chancen, neue Präsidentin zu werden?

André Ballin: [00:05:09] Sie ist eigentlich nur Ersatzkandidaten für ihren Ehemann Sergej. Er ist ein Unternehmer und ein ziemlich bekannter Blogger und wollte Präsident werden. Und er hatte gute Chancen. Und deshalb wurde er eingesperrt. Und dann ist seine Frau für ihn eingesprungen. Sie selbst ist Übersetzerin, 37 Jahre alt und politisch völlig unerfahren. Aber das muss man ihr zugute halten: sie hat während der Wahlkampagne Mut bewiesen und Lukaschenko scharf kritisiert. Auch im Fernsehen, wo sie immerhin ihr Wahlspots ausstrahlen konnte. Richtige Debatten gibt's ja in Belarus nicht, aber zumindest jeder Kandidat hatte das Recht, seine Wahlspots auszusenden. Und das hat sie gemacht. Und sie hat Lukaschenko attackiert. Und deswegen hat sie wohl nach Meinung vieler Belarussen die Wahl auch tatsächlich gewonnen. Ob sie wirklich Präsidentin wird, hängt davon ab, ob und wie verhandelt wird. Aber wenn sie es werden sollte, dann wohl nur für eine Übergangszeit. Sie hat selbst gesagt. Ihre wichtigste Aufgabe ist die Gewährleistung fairer Wahlen. Sie wird also wahrscheinlich nur solange dasein, bis Neuwahlen stattfinden, wo dann alle teilnehmen können, die wirklich teilnehmen wollen.

Antonia Rauth: [00:06:15] In Brüssel diskutieren heute die EU-Staats und Regierungschefs, wie man denn mit Belarus umgehen soll, wie es möglich wäre, da eine gemeinsame Linie zu fahren. Aber wie ist die EU denn eigentlich bisher mit der Situation in Belarus umgegangen?

André Ballin: [00:06:31] In den letzten Jahren hat die EU dort verstärkt mit Lukaschenko verhandelt. Er hat sich ja als Vermittler im ukrainisch russischen Konflikt angeboten, und daher schien es realpolitisch sinnvoll, ihn nicht ins Abseits zu drängen. Zuletzt aber gab es dann eben das klare Signal "so nicht". Das Wahlergebnis wurde von der EU nicht anerkannt.

Antonia Rauth: [00:06:51] Was erwartest du vom heutigen EU-Gipfel für ein Ergebnis? Wird es da überhaupt ein konkretes Ergebnis geben?

André Ballin: [00:06:57] Ein bisschen skeptisch, ehrlich gesagt, es ist natürlich immer schwer zu sagen. Aber es sind sehr, sehr viele Interessen, die dort unter einen Hut gebracht werden müssen. Und einerseits ist natürlich die Wahlfälschung inakzeptabel. Andererseits befürchten viele Politiker, Lukaschenko in die Arme Putins zu treiben. Daher, denke ich, wird es eine symbolische Verurteilung und vielleicht einige persönliche Sanktionen geben.

Antonia Rauth: [00:07:22] Aber Putin ist doch eigentlich kein großer Lukaschenko-Fan, oder?

André Ballin: [00:07:26] Nein, das ist er auf jeden Fall nicht. Die beiden haben ein zunehmend schwierigeres Verhältnis entwickelt in den letzten Jahren, weil Lukaschenko diese Schaukelpolitik zwischen Ost und West betrieben hat, was Putin nicht gefallen hat. Lukaschenko hat viel versprochen, um sich Vorteile im Öl- und Gashandel zu holen. Aber er hat nichts gehalten, was aus Moskauer Sicht wichtig gewesen wäre. Das wäre zum Beispiel die Anerkennung der Krim gewesen als Russisch. Oder davor schon die Anerkennung Abchasiens und Südossetiens als unabhängig. Das alles hat Lukaschenko nicht gemacht, und natürlich hat er damit bei Putin schon Ärger erzeugt.

Antonia Rauth: [00:08:11] Angenommen, die EU würde sich heute zum Beispiel auf Sanktionen einigen. Würde das überhaupt irgendwas bewirken?

André Ballin: [00:08:20] Eins ist ganz klar: Lukaschenko wird es verkraften, nicht mehr ein Österreich Ski zu fahren. Aber andererseits, Belarus hat vor allem als Zwischengelager im russisch-europäischen Handel verdient, also billige Rohstoffeaus Russland wurden gekauft. Die werden dann weiterverarbeitet und nach Westen weiterverkauft. Wenn das nicht mehr klappt, dann wird es ganz schnell düster in Minsk. Das Problem dabei: Die gleiche Drohung kann natürlich Putin von der anderen Seite aufstellen. Der Westen sagt "Wir kaufen nichts mehr von den Russen". Aber die Russen könnenauch sagen "Wir liefern kein Öl und Gas mehr nach Belarus". Das ist sehr schwer, dort mit Sanktionen zu arbeiten.

Antonia Rauth: [00:09:02] Ganz direkt gefragt: Denkst du, dass Lukaschenko sich noch einmal fangen wird? Oder wird er nach fast drei Jahrzehnten nun wirklich gestürzt werden?

André Ballin: [00:09:11] Gestern hätte ich noch ganz klar gesagt: Es vorbei. Heute bin ich mir tatsächlich nicht mehr ganz sicher. Es hängt jetzt tatsächlich alles vom Durchhaltevermögen der Bürger und natürlich auch von den richtigen Entscheidungen der Opposition ab. Also wie weiter Druck ausgeübt wird auf Lukaschenko. Die Obrigkeit tut das ihrige, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie droht mit Entlassungen, Schikanen, und auch die Angst vor der Polizei ist nicht verschwunden. Zudem hat sich Lukaschenko die Rückendeckung in Moskau gesichert. Putin hat ihm zur Wahl gratuliert. In der Nacht soll ein Flugzeug des russischen Geheimdienstchefs in Minsk gelandet sein. Er verhandelt also schon mit Moskau über mögliche Konditionen, wie es weitergehen soll. Aber es kommt tatsächlich auf die Belarussen an, also auf das einfache Volk. Es weiß: Die Chance auf einen Wechsel war nie so groß wie jetzt. Und freiwillig wird Lukaschenko nicht gehen.