Autorin und Master-Studentin Dorina Marlen Heller schreibt in ihrem Gastkommentar über fehlende Gleichberechtigung und Frauen, "die rezipieren, aber nicht partizipieren".

Offen sexistisch zu sein ist spätestens seit der #MeToo-Debatte in vielen gesellschaftlichen Kontexten verpönt. Wir sind progressiv, inklusiv und aufgeklärt, Sexismus passt da ebenso wenig ins Bild wie Rassismus. Das heißt aber nicht, dass sich Sexismus aufgelöst hätte – er sucht sich nur andere Ventile. Sexismus ist subtiler und somit schwerer greifbar geworden. Das macht es auch schwerer, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was diskriminierend und frauenverachtend ist. Das Lippenbekenntnis zur Gleichberechtigung ist oft auch eine Selbstimmunisierung gegen die eigenen blinden Flecken. Denn die Sexisten (und Rassisten) sind immer die anderen.

Corona-bedingt findet das Forum Alpbach, das am 23. August beginnt, heuer zum ersten Mal vorwiegend virtuell statt.
Foto: APA/Neubauer

Seit 1945 treffen im Tiroler "Dorf der Denker" (die Denkerinnen sind vermutlich wie so oft "mitgemeint") jedes Jahr besonders viele progressive, offene und kluge Menschen aufeinander. Gelingt am Europäischen Forum Alpbach en miniature, was woanders scheitert, der Entwurf einer besseren, gleichberechtigteren Gesellschaft? Heuer findet das Forum zum ersten Mal virtuell statt. Eine einmalige Chance für mehr Diversität, jetzt wo Ländergrenzen durch Megabits überwunden werden.

Mehr Diversität

Eine Analyse der diesjährigen Rednerinnen- und Rednerliste zeigt: Obwohl es 2020 wohl so leicht wie noch nie war, Parität zu erreichen, sind nur rund 40 Prozent der Rednerinnen weiblich. Das entspricht dem Trend der Vorjahre. Die Frauenquote des Forums hat sich in den letzten Jahren zwar von fünf Prozent auf 37 Prozent gesteigert, aber nun stagniert sie. Die Rechtfertigung, dass diese Zahlen eben allgemeine gesellschaftliche Geschlechterproporze widerspiegeln, greift zu kurz. Das langfristige Ziel darf nicht sein, einfach mehr weiße, gutgebildete, wohlhabende Frauen zu den weißen, gutgebildeten, wohlhabenden Männern auf die Podien zu setzen. Aber: "Sexismus sitzt tiefer als Rassismus, als Klassenkampf", schrieb die Schriftstellerin Verena Stefan vor mehr als vierzig Jahren.

In den Vorjahren brach Sexismus oft äußerst subtil am Forum auf. Etwa in den Interaktionen zwischen bühnenbeherrschenden Männern und fragestellenden Frauen aus dem Publikum. Da verdreht man nur milde lächelnd die Augen, wenn die zweite Frau von Andreas Treichl wissen will, ob das Finanzwesen mit mehr Frauen in Führungspositionen anders wäre, nachdem er der ersten Fragenden keine klare Antwort gab. Treichl, im Vorstand der Erste Group und ab nächstem Jahr der neue Präsident des Forums, räumt nach der zweiten Nachfrage zwar ein, dass das Finanzwesen hundertprozentig besser wäre, wenn wir echte Gender Equality hätten. Aber das gelte für jeden anderen Bereich auch.

Knock-out-Strategie

Aber natürlich, bei ihm in der Erste Bank habe man das auch nicht geschafft mit der Gleichberechtigung im Vorstand, leider, leider. Ganz schlimm, jaja. Aber was soll manmachen. Dieses offene Eingestehen von Missständen ist letztlich eine brillante Knock-out-Gesprächsstrategie. Sie nimmt der Gegenseite den Wind aus den Segeln. Wenn antizipatorisch schon mal etwas Selbstgeißelung betrieben wird ("Schlimm ist es, recht haben Sie, ändern muss sich was"), wird die eigene Moralität wiederhergestellt. Mehr noch: Die soziale und moralische Definitionsmacht wird zurückerobert. Die Argumente der Gegenseite werden entschärft und relativiert. Diese Taktik verhindert eine Diskussion und zementiert bestehende Verhältnisse. Sehr subtil. Sehr wirkungsvoll. Zumindest man selbst kann sich mit derartigen Retouren elegant aus der Affäre ziehen.

Kaum Vorbilder

Rückblickend dominiert eine Frauengruppe das Forum: die schweigenden Frauen. Jene Frauen, die rezipieren, aber nicht partizipieren. Die gebannt den Vortragenden lauschen, mitschreiben, mitdenken, nachher in Kleingruppen darüber reden, aber sich nicht aktiv am Diskurs beteiligen. Selbst schuld, heißt es an dieser Stelle vielleicht. Aber auch das ist zu kurz gedacht.

Um dieses allgegenwärtige Phänomen zu verstehen, müssen wir kulturgeschichtlich weit zurückgehen. Bis in die Antike, bis zu den Anfängen der Rhetorik. Denn öffentliches Sprechen und Redekunst waren in der Antike nicht einfach Dinge, die Frauen "nicht gemacht haben", sondern Fähigkeiten und Praktiken, die exklusiv den Männern vorbehalten waren und Maskulinität als Geschlecht definierten, wie die Wissenschafterin Mary Beard schreibt.

Hinzu kommt, dass es kaum Vorbilder für weibliche Macht gibt. Mächtige Frauen werden de facto zu Männern, in ihrem Kleidungsstil (siehe die Hosenanzugsuniformen von Angela Merkel und Hillary Clinton) und auch in ihrer Rhetorik und Stimmlage (Margaret Thatcher trainierte sich etwa mittels Sprechcoaching eine tiefere Stimme an). Diese Anpassungsmuster aufzubrechen ist ein langer Prozess. Frauen, die sich aufeinander beziehen, sich gegenseitig den Rücken stärken und notfalls eben auch dieselbe Frage zweimal stellen, bis sie von Andreas Treichl beantwortet wird, sind vielleicht ein Anfang.

Der neuen Leitung des renommierten Forums ist zu wünschen, dass es gelingt, die eigenen blinden Flecken zu überwinden und künftig gerechtere, diversere und partizipative Besetzungen und Kommunikationen zu ermöglichen. (Dorina Marlen Heller, 21.8.2020)