Ursina Lardi in der Uraufführung von "Everywoman" in Salzburg.

Foto: APA/BARBARA GINDL

Helga Bedau ist todkrank. In der Uraufführung von "Everywoman" ist sie auf der Leinwand zugeschaltet.

Foto: APA/BARBARA GINDL

Es geht um die ganz großen Fragen. Und gleichzeitig um nicht viel. Das ist der Reiz, aber auch die Schwäche der zweiten und somit letzten Salzburger Schauspiel-Neuproduktion in diesem Festspiel-Sommer. Regisseur Milo Rau wurde von Schauspielchefin Bettina Hering beauftragt, einen neuen, ganz freien Blick auf den Jedermann-Stoff zu werfen. Schließlich feiert man in diesem Jahr (genauer: am Samstag) das Hundert-Jahr-Jubiläum von Max Reinhardts Inszenierung auf dem Salzburger Domplatz. Rau wiederum ist derjenige, der von ambitionierten Festivalmachern angerufen wird, wenn es darum geht, die alten Stoffe mit der aktuellen Weltlage zu verbinden.

Er und sein Kollektiv fahren in Krisengebiete, hieven Laien auf die Bühne und machen auch sonst vieles, was im normalen Stadttheater nicht vorgesehen ist. Selbsternannte Theaterneuerfinder gewissermaßen. Samt Manifest und politischer Mission. Manchmal schaut das Ergebnis aber recht konventionell aus.

Tod statt Taten

In diesem Fall ging’s gemeinsam mit Schaubühnen-Schauspielerin Ursina Lardi (das Ganze ist eine Koproduktion mit Berlin) zu indigenen Künstlern nach Brasilien. Nachdem auch dort Corona ausbrach, fand man sich bald in Berlin wieder. Und statt der "Werke", also der Taten, die von uns bleiben, rückte der Tod in den Mittelpunkt. In Hugo von Hofmannsthals allegorischem Volksstück steht dieser selbst auf der Bühne, mit Sense und grimmigem Blick. Bei Rau und Lardi ist es die 71-jährige todkranke Helga Bedau, auf die man nach längerer Suche in einem Berliner Hospiz getroffen und die auf einem voraufgezeichneten, hoch ästhetischen Video Lardi zugeschaltet ist.

Statt mit raunenden Worten wie der Tod in Hofmannsthals katholischer Moralität spricht sie in nüchterner, gänzlich unlarmoyanter Weise über ihre Bauchspeicheldrüsenkrebs-Diagnose, ihr Leben und baldiges Sterben. Das ist die erste, wohltuende (aber etwas unbefriedigende) Pointe in dieser Festspiel-Produktion in der Szene Salzburg.

Der Tod ist eine Tatsache, was immer man über ihn erzählt, kommt über eine Ansammlung von Banalitäten nicht hinaus. Ob es sich nun wie beim Jedermann um einen außergewöhnlichen Mann oder wie in Everywoman um eine "alltägliche" Frau handelt. "Der Tod ist – der Tod", könnte man in Abwandlung des berühmten Wortes über die Ehre der Minna von Barnhelm sagen.

Sehr freie Interpretation

Die zweite Pointe dieses von Lardi und Rau unter Mithilfe von Dramaturgin Carmen Hornbostel erarbeiteten Dialogs ist, dass er neben einer sehr freien Interpretation des Jedermann-Stoffs (samt Glockengeläut und Gartentafel) eine Reflexion über das Theater ist. Diese bringt Ursina Lardi ein.

Die Schauspielerin steht auf der bis auf zwei Pappmaché-Findlinge, einige Umzugskartone, einen Ghettoblaster und ein Klavier leergeräumten Bühne (Anton Lukas) und macht das, was auch Bedau macht: Sie erzählt über sich und ihr Leben. Beziehungsweise über jenes der Bühnenfigur Ursina Lardi, die Ursina Lardi spielt. Poetischer allerdings und mit vielen reflektierenden Abschweifungen. Von zentraler Bedeutung ist dabei – wie könnte es bei dieser Ausnahme-Schauspielerin, aber auch ihrem Regisseur sein – das Theater.

Ein ideales Theater

Hundert Jahre nach der ersten Salzburger Aufführung des neo-konservativen Jedermann mit seiner einzigartigen und für Nichtösterreicher oft schwer nachvollziehbaren Aufführungsgeschichte kommt eine Neuinterpretation des Stoffes wohl auch nicht drum herum, sich die Frage nach dem Kern, dem Wesen von Theater zu stellen. Milo Rau und seine Mitstreiter beschäftigen sich seit zwei Jahren am Genter Theater mit neuen Formen und Formaten, in Salzburg dockt Lardi daran an und imaginiert in einem intensiven Monolog samt Schnürlregen eine Art ideales Theater, in dem es weder um inhaltliche noch gesellschaftskritische Fragen geht, sondern "ums Ganze".

Ähnlich wie bei Peer Gynts Zwiebel dringt man in Salzburg aber weder bei der Frage nach dem Tod noch bei der nach dem idealen Theater zu einem Kern vor. Im Inneren sind die gestellten Fragen hohl. Trotz eines komplett anderen Zugangs in der Erarbeitung des Stücks ähnelt das Ergebnis herkömmlichem Stadttheater mehr, als es seinen Machern lieb sein kann. Was aber, und diese Frage muss man sich selbst stellen, hätte man sich erwartet? Auch hundert Jahre nach der ersten Aufführung auf dem Domplatz geht die Suche weiter. Und das ist gut so. (Stephan Hilpold, 20.8.2020)