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Christoph Schlingensief stimmt sich im Mai 2004 auf Richard Wagner ein. Bei der Aktion "Wagnerrallye" im Ruhrgebiet (hier mit Ziegen-Copilot) erschallt Opernmusik aus den fahrenden Rennautos.

dpa / Picturedesk / Oliver Weiken

Heute, da Megafone wie Relikte einer lange vergangenen, auf haptische Wirklichkeiten fußenden Epoche wirken und jede Aktionskunst vom virtuellen Raum eingesaugt wird, da ist es kaum vorstellbar, dass es einen wie Christoph Schlingensief im 21. Jahrhundert noch gegeben hat. Der Regisseur starb heute vor zehn Jahren 49-jährig an Lungenkrebs.

Bei der Viennale zu sehen: "In das Schweigen hineinschreien", ein Film Bettina Böhler.
Weltkino Filmverleih

Kurz bevor die digitale Realität die Macht über Kontakt- und Kommunikationsformen, über Vermittlungs- und Ausdrucksweisen gänzlich übernahm, da hat Schlingensief "die Wirklichkeit" noch an sich gerissen. Seine sämtliche Sparten inkludierende Kunst – Film, Theater, Oper, Installation, bildende und Aktionskunst, Show etc. – war das letzte Aufbäumen einer Welt der Gegenständlichkeit und der physischen Präsenz. Nur dort, wo Schlingensief war, war auch seine Kunst, das war ihre Kraft. Ihre unberechenbare Erschütterung fehlt heute gänzlich. Es klafft eine Leerstelle dort, wo auf offener Straße, im Theater oder am Theatervorplatz ins Megafon geplärrt gehörte, wo lauthals von vielen widersprochen und sich dabei selbst aufs Spiel gesetzt gehörte.

Theater der Handgreiflichkeit

Menschen der Meme-Generation müssen über Zusammentrommelaktionen des Apothekersohns aus dem Ruhrgebiet nur so staunen. 1998 etwa lud Schlingensief sechs Millionen Arbeitslose dazu ein, mit ihm am Wolfgangsee baden zu gehen, um aus der Unsichtbarkeit zu treten und als Zeichen dessen das Urlaubsdomizil des damaligen deutschen Kanzlers Helmut Kohl zu fluten. Mehr Physis, mehr soziale Plastik, mehr Eleganz im Theorie-Praxis-Verhältnis – und mehr Schelmerei – konnte es gar nicht geben.

Als "Theater der Handgreiflichkeit" hat dies Schlingensief charakterisiert. Und manchmal wurde dieses auch wortwörtlich erreicht, etwa bei der Bitte liebt Österreich!-Aktion (Festwochen 2000), die das Rauswählverfahren der Sendung Big Brother auf reale Gesellschaftspolitik ummünzte. So nahe kommen Menschen einander (auch ohne Seuche) heute gar nicht mehr. Schlingensief hat Pulverfässer aufgestellt, und das Publikum war aufgefordert, sich selbst dabei zu begreifen, wie es die Explosion auslöst.

Ensemble der Ungereimtheiten

Immer lag die Apokalypse in Griffnähe, die den Zustand extremer Wachheit einforderte, herbeigeführt durch eine sich selbst irritierende Erzählweise, die alles zusammendachte und ein produktives Chaos installierte, aus dem niemand so rausging, wie er reinkam. Schlingensief, der die Regieposition zwischen Selbstdarstellung und Selbstauflösung volatil hielt, war in diesem Mahlstrom der vorderste Ruderer, umgeben von einer diversen Ensembleschar voller Ungereimtheiten.

Er, dessen Eltern sich sechs Kinder gewünscht hatten, hat seine Aufgabe als Einzelkind über alle Maßen erfüllt. Schon als Zwölfjähriger hat er Filme gedreht – das Filmschaffen blieb immer sein Fundament. Er hat RTL-Shows moderiert und die junge Angela Merkel sowie die betagte Beate Uhse niedergeredet, er hat in Bayreuth und am Burgtheater inszeniert und dabei stets Verabredungen über Bord geworfen, um Situationen produktiv zu machen. So gelang es ihm – irgendwie zu Hause an Frank Castorfs Volksbühne – den Theaterbetrieb jedes einzelne Mal aus der Verankerung zu reißen und schon damals Fragen zu reflektieren, an denen sich die darstellende Kunst heute auch abarbeitet: Wen repräsentieren, wen adressieren wir, und welche Moral leisten wir uns dafür?

Widersprüchliches Wundmal

Insofern waren auch seine innerhalb von Stadttheaterstrukturen entstandenen Inszenierungen immer "Aktionen", die sich als Bewegungen in einer Sache verstanden, etwa die "Church of Fear" oder die Partei "Chance 2000 – wähle dich selbst!". Dazu zählt auch das sogenannte Operndorf in Burkina Faso, das Schlingensief, bereits schwer krank, initiierte und das er als widersprüchliches Wundmal einer kolonialen Vergangenheit hinterließ.

Die Vehemenz von Schlingensiefs gesellschaftspolitischer Einmischung erreicht Kunst längst nicht mehr. Ihr fehlt es nicht nur an singulären Protagonisten, die sich wie er zu Markte tragen. Vor allem stehen wir, in Echokammern abgedrängt, vor dem Bedeutungsverlust des öffentlichen Raums, der sich als Austragungsort entzieht. Er dient oft nur noch als Bildproduktionsstätte für Botschaften, die viral gehen. Und doch tragen Interventionstrupps wie etwa die Punkband Pussy Riot, die bis heute das Megafon hochhält, oder auch das Zentrum für politische Schönheit (ZPS) ein Schlingensief’sches Gen in sich. (Margarete Affenzeller, 21.8.2020)