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Der fortschreitende Anstieg des Meeresspiegels hat Deutschland und seine Nachbarn zum Bau riesiger Deichanlagen entlang der Nordseeküste gezwungen. Was offenbar ganz gut geklappt hat – bis 2055 eine Terrororganisation, von der bis dahin niemand etwas gehört hatte, die Deiche sprengte. Die Flut kostete Millionen Menschen das Leben und vertrieb weitere Millionen aus ihrer Heimat. Ganze Landstriche und Städte wie Hamburg versanken im Meer.

Doch nicht die Katastrophe selbst bildet den Hintergrund zu Dieter Riekens "Land unter", und auch nicht der Überlebenskampf und Wiederaufbau unmittelbar danach. Sondern die Routine, die sich eingestellt hat, nachdem einige Jahre verstrichen sind. In den nicht unmittelbar betroffenen Teilen des Landes ist das Leben ohnehin mehr oder weniger weitergegangen, als wäre nichts geschehen. Aber auch im Katastrophengebiet selbst ist wieder eine Art Alltag eingekehrt. Und obwohl das Land dort für immer gezeichnet sein wird, wirkt dieser Alltag manchmal beinahe schon idyllisch.

Die neue Normalität

Im Mittelpunkt der Handlung steht eine kleine Clique von Rückkehrern, die sich auf dem, was noch von der ostfriesischen Insel Norderney aus dem Wasser ragt, niedergelassen haben. Hauptfigur Enno Osterkamp ist ein Wartungstechniker für Offshore-Windparks (man denkt unwillkürlich an Ben Smiths "Dahinter das offene Meer") und bewohnt die oberen Etagen eines überfluteten Hochhauses. Seine Freunde Hose, Warner und Tine haben sich ähnlich eingerichtet. Einer lebt in einem Leuchtturm, ein anderer betreibt in einer aufgegebenen Kirche einen Club – das Ganze hat einen unverkennbaren Vibe von Berlin Anfang der 90er Jahre.

Abends wird auf dem Dach gegrillt, tagsüber gejobbt – wie Tine, die regelmäßig in die nächste Stadt pendelt, um als Synchronsprecherin(!) zu arbeiten. Ich könnte mir kaum einen weniger postapokalyptisch anmutenden Beruf vorstellen als Synchronsprecher; es ist geradezu ein Symbol dafür, wie das Leben hier wieder zu seinem gewohnten Gang gefunden hat.

Und auch wenn wir Ostfriesland zwischendurch mal verlassen, stoßen wir hauptsächlich auf Vertrautes: Die Romanwelt wirkt wie eine Fortschreibung der gegenwärtigen ökonomischen und gesellschaftlichen Trends und könnte statt 2060 auch schon Ende dieses Jahrzehnts Wirklichkeit geworden sein. Zwar hat Deutschland seit dem Terroranschlag eine rechtsnationale Regierung, doch würden wir kaum etwas von deren Wirken bemerken, wenn die Protagonisten nicht über sie sprächen. Denn auch in der Politik ähnelt das Nachher dem Vorher stärker, als man denken würde. Dass die Kontinuität den Umbruch eindeutig überwiegt, lässt die Welt von "Land unter" für mich realistisch wirken.

Wo die Glaubwürdigkeit strapaziert wird

"Land unter" ist der Debütroman Dieter Riekens, der zuvor zwar schon eine Reihe von Kurzgeschichten geschrieben hatte, sich aber erst mit 58 an die Veröffentlichung seines ersten langen Erzählwerks herangewagt hat. Auf der Buchrückseite wird "Land unter" als Mischung aus Zukunfts-, Kriminal- und Heimatroman bezeichnet. Zwei der Komponenten (Zukunft und Heimat) sind für die Stimmung zuständig, und die sitzen. Der Plot allerdings wird von der dritten bestimmt, dem Krimi. Und da geht die Glaubwürdigkeit leider flöten.

Da hätten wir 1) einen Antagonisten, der unterm Strich wie ein kleiner Junge wirkt, der sich vor jeder Anstrengung drückt und keinerlei Kompetenz oder Konsequenz erkennen lässt. Es heißt nicht umsonst "kriminelle Energie" – komplett ohne Aufwand kommt auch ein Verbrecher nicht an die Spitze. Unglaubwürdig. 2) offenbaren sich gegen Ende hin personelle Querverbindungen zwischen den Figuren, wie man sie in diesem Dichtegrad nicht einmal in einem Krimi von Agatha Christie finden würde; eher schon in einer Christie-Parodie. Übertrieben.

Am schwersten wiegt für mich aber, dass 3) die Reaktion der Protagonisten auf den Täter der Dimension seiner Tat einfach nicht gerecht wird. Der Mann hat nicht Tante Hilde ins Altersheim einweisen lassen, um sich ihr Haus zu krallen. Er verantwortet ein Verbrechen, dem mehr Menschen zum Opfer gefallen sein sollen als dem Holocaust! Da müssten schon die richtigen Worte gefunden werden, um das auch fühlbar zu machen.

Der bizarre Schlüsselmoment

Einen Punkt, der manchem Leser in Sachen Plausibilität ebenfalls aufstoßen mag, gäbe es noch. Doch den betrachte ich als Sonderfall. Das Jahrtausend-Verbrechen wäre nämlich für immer unaufgeklärt geblieben, wenn nicht in der Schlüsselstelle des Romans etwas ganz und gar Außergewöhnliches geschehen würde. Dieser Moment, bei dem ich mir verdutzt die Augen gerieben habe, dürfte die Geister scheiden. Und ich könnte mir sogar vorstellen, dass es Mainstream-Lesern leichter fiele als SF-Fans, ein solch unerklärliches Ereignis einfach als erzählerisches Element hinzunehmen. (Weil das SF-Publikum in der Regel das Außergewöhnliche nur dann akzeptiert, wenn es in sich stimmig bleibt.) Ich war mir zunächst unschlüssig – letztlich fand ich dieses kleine Wagnis Riekens aber gut. Die zuvor genannten Unstimmigkeiten kann dies jedoch leider nicht ausgleichen.