Sie fragen sich manchmal, was der Mund-Nasen-Schutz wirklich bringt? Täglich sehen Sie Menschen in der U-Bahn, die ihren Mund-Nasen-Schutz falsch oder gar nicht tragen, Sie verstehen das auch irgendwie, weil sie selbst zur Genüge unter diesem kleinen Stück Stoff schwitzen. Sie würden gern mit Freunden in einer Bar Geburtstag feiern oder zum Fußballspiel ins Stadion gehen? Willkommen im "hedonistischen Verhaltensmuster"! So bezeichnet der Sozialwissenschafter Bernhard Kittel vom Vienna Center for Electoral Research der Universität Wien die gegenwärtige Haltung der Menschen zu Corona-Maßnahmen.

Österreich im Zeichen des Mund-Nasen-Schutzes und seiner Gegner – auch das berühmte Johann-Strauß-Denkmal wurde drapiert.
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Die heimische Bevölkerung empfinde Einschränkungen, die die Verbreitung des Virus verlangsamen sollen, zunehmend als "lästig", sagt der Wissenschafter. Kittel erforscht gemeinsam mit Sylvia Kritzinger, Hajo Boomgaarden und Barbara Prainsack im "Corona Panel" die gesellschaftlichen Auswirkungen der Krise. Basis dafür sind monatliche Umfragen unter 1500 Teilnehmern. Die öffentlichen und für jedermann zugänglichen Daten werden rasch analysiert, die Ergebnisse schließlich im Blog viecer.univie.ac.at/corona-blog veröffentlicht.

Reizthemen angesprochen

Inhaltlich ging es von Anfang an um Reizthemen: die Benachteiligung der Frauen während des Lockdowns durch vermehrte Hausarbeit und Kinderarbeit, Veränderungen in der Qualität von Paarbeziehungen, die Einhaltung von Regeln gegen die Ausbreitung von Corona, aber auch die Frage einer Impfpflicht.

Das Projekt startete zwei Wochen nach Umsetzung der Lockdown-Maßnahmen am 16. März mit Unterstützung des Wiener Wissenschaftsfonds (WWTF) und des Rektorats der Universität Wien. Nach Zwischenfinanzierungen durch die Arbeiterkammer (AK) und die Industriellenvereinigung (IV) hat man nun eine "Akutförderung" des Wissenschaftsfonds FWF von 360.000 Euro erhalten. Damit sind die Forschungsarbeiten für insgesamt zwei Jahre gesichert. Ob man sich einmal um eine Verlängerung bemühen werde, macht Kittel vom Infektionsgeschehen ab.

Sinnvolle Vorsorge

Der drängende Wunsch, ohne Einschränkungen zur Normalität zurückzukehren, habe sich mit den Lockerungen der ursprünglich strengen Corona-Schutzmaßnahmen eingestellt und sei kaum aus den Köpfen der Menschen zu bringen – trotz zahlreicher Statements von Virologen, die den Mund-Nasen-Schutz sehr wohl eine sinnvolle Vorsorge zum Schutz der Mitmenschen vor Ansteckung sehen. Laut Kittel hätten widersprüchliche Verordnungen und zwei in den Medien breit diskutierte Auftritte der Regierungs- und der Staatsspitze zur Manifestation dieser Grundhaltung beigetragen: der publikumswirksame Besuch von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im Kleinwalsertal in Vorarlberg und das berühmte "Verplaudern" von Bundespräsident Alexander Van der Bellen in einem Restaurant in Wien.

Als alles begonnen hatte, sahen Kittel und das Forscherteam noch ein ganz anderes Bild: "Da waren wir noch ängstlich und vorsichtig." Was könnte mich und meine Familie gefährden? Diese Frage hätten sich viele Teilnehmer der monatlichen Umfragen unmittelbar nach Bekanntgabe der ersten Corona-Fälle im Land am 25. Februar gestellt.

Normative Prinzipien

Als dann der Lockdown Realität wurde, als das öffentliche Leben in Österreich fast zur Gänze zum Erliegen kam, "orientierte man sich im Großen und Ganzen an normative Prinzipien", berichtet Kittel. Die Straßen waren leer, die öffentlichen Verkehrsmittel ebenso, und wenn es nötig war, außer Haus zu gehen, versuchte man, den gebotenen Mindestabstand zu wahren und sich an die in Pressekonferenzen von der Regierungsspitze verkündeten Maßnahmen zu halten.

Könnte man den Österreichern vielleicht gar einen Hang zur "Obrigkeitshörigkeit" vorwerfen, weil sie ohne strenge Regeln und Strafandrohungen offenkundig nachlässig geworden sind? Kittel meint, dass ein gewisser monarchischer Geist individuell schon zu beobachten sei: der Wunsch, nach klar definierten Vorgaben einer Staatsgewalt handeln zu können und dabei über die aktuelle Situation so wenig wie möglich nachdenken zu müssen. Die derzeit propagierte Eigenverantwortung bei den Vorsichtsmaßnahmen steht im Widerspruch zu unseren kulturellen Praktiken, wodurch es schwierig sei, diese konsequent einzuhalten.

Zu wenig Diskurs

Gründe dafür seien nicht eindeutig zu erkennen: Die Bundesregierung habe vermutlich zu selten den Diskurs mit der Öffentlichkeit gesucht, sagt der Wissenschafter. Kittel vergleicht die Schweiz mit Österreich: Im Nachbarland habe man von Anfang an mit weniger strengen Regeln offen debattiert – und ähnlich gute Erfolge bei der Eindämmung der Pandemie erzielt.

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Ein Statement gegen die Impfpflicht reicht nicht. Es braucht mehr Aufklärung, so die Meinung des Sozialwissenschafters Bernhard Kittel
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Der Mangel an offenem Diskurs könne noch zum Problem werden, wenn der erste nach strengen Zulassungskriterien zugelassene Impfstoffe verfügbar ist. Wie sorgt man aber für eine möglichst hohe Durchimpfungsrate? Kittel glaubt, dass ein Statement gegen die Impfpflicht allein nicht ausreicht. Es gäbe viel Aufklärungsbedarf in der Bevölkerung. Der Wissenschafter beruft sich auf eine der Umfragen im Zuge der Corona-Panel-Forschungsarbeiten: Sollte ein Impfstoff bereitstehen, geben demnach nur 47,5 Prozent der Befragten an, sich ehestmöglich impfen lassen zu wollen. Demgegenüber zeige etwa ein Drittel der Befragten eine ablehnende Haltung. Angesichts der Erfolgsgeschichte der Impfungen sei das ein beunruhigendes Ergebnis.

Eine Art Bürgerforum

Kittel empfiehlt daher eine Art Bürgerforum nach dem Vorbild der im angelsächsischen Raum und in Skandinavien gebräuchlichen Deliberative Polling. "Hier werden von Diskussionsteilnehmern aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen besonders konfliktgeladene Themen diskutiert", erzählt er. Das Ergebnis sollte ein tragfähiger Kompromiss sein, der wiederum die Basis für einen gesellschaftlichen Umbruch sein kann.

Im katholisch dominierten Irland sei man so zur gesellschaftlichen Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Ehe gekommen. Mit Deliberative Polling könne man jedenfalls mehr Akzeptanz für eine möglichst hohe Durchimpfungsrate erreichen, so die Überzeugung des Wissenschafters. Um eine effektive Herdenimmunität zu erlangen, müsste diese nämlich bei 50 bis 70 Prozent liegen. (Peter Illetschko, 25.8.2020)