Die Anerkennung als Volksgruppe würde die Integrationsbereitschaft erhöhen, findet der Soziologe Max Haller im Gastkommentar. Der Vorschlag solle ernsthaft diskutiert werden.

In Österreich gibt es derzeit sechs Volksgruppen. Eine kleine Wiener Partei regte an, diesen Kreis zu erweitern – was seitens der Regierung aber abgelehnt wird.
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Die neue Wiener Partei SÖZ (Sozial & Ökologisch) hat vorgeschlagen, die Zuwanderer aus der Türkei und aus dem ehemaligen Jugoslawien offiziell als Volksgruppen anzuerkennen. Dagegen hat die Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) scharf Stellung genommen und die Idee als absurd bezeichnet. Anerkannte Volksgruppen hätten das Recht auf muttersprachlichen Unterricht und auf öffentliche Beschriftungen in ihren Gebieten, Zuwanderer müssten sich dagegen integrieren.

Diese These scheint auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbar zu sein. Die Slowenen in Südkärnten und die Ungarn und Kroaten im Burgenland leben dort schon lange, und es ist verständlich, dass sie – ebenso wie die Südtiroler in Italien – spezifische Rechte zur Bewahrung ihrer Kultur erhalten haben. Bei genauerem Nachdenken ergeben sich aber doch einige Zweifel an der klaren Abgrenzung zwischen diesen autochthonen Volksgruppen und den türkischen Zuwanderern.

Drei Generationen

Die österreichische Rechtslage definiert sechs Volksgruppen: die burgenlandkroatische, die slowenische, die ungarische, die tschechische, die slowakische und die Roma-Volksgruppe. Einen Volksgruppenbeirat, zweisprachige öffentliche Beschriftungen, muttersprachlichen Schulunterricht – das Wichtigste von allem – haben aber nicht alle von ihnen bekommen. Sind nicht auch einige dieser Volksgruppen erst Ende des 19. Jahrhunderts nach Österreich zugewandert? Die Frage ist daher: Wie wird eine Volksgruppe im Gesetz genau definiert? Laut Verfassungsjurist Gerhard Holzinger sind als Volksgruppen "alle in Österreich wohnhaften und beheimateten Gruppen österreichischer Staatsbürger mit nichtdeutscher Muttersprache und eigenem Volkstum zu betrachten". Als "beheimatet" gilt eine Volksgruppe, wenn sie im Laufe von etwa drei Generationen in einem bestimmten Bundesgebiet als wohnhaft nachweisbar ist.

Frage der Organisation

Anhand dieser Kriterien würden die heute lebenden Nachkommen der Zuwanderer aus Ex-Jugoslawien und der Türkei wohl nicht als Volksgruppen gelten können; die meisten dürften noch erste und zweite Generation sein. Dass dies jedoch in absehbarer Zeit der Fall sein wird, ist sehr wahrscheinlich. Dazu müsste kommen, dass sie sich auch selbst als Volksgruppen definieren und organisieren. Dies wäre aber pauschal nicht möglich, da sowohl die Zuwanderer aus Ex-Jugoslawien wie auch jene aus der Türkei selbst wieder unterschiedlichen ethnischen Gruppen angehören (Serben, Kroaten, Bosnier, Türken, Kurden und so weiter). Dass sie ihre Kultur und Muttersprache auch in dritter Generation aufrechthalten, ist wahrscheinlich, vor allem bei den Zuwanderern aus der Türkei. Auch diese sind heute im Großen und Ganzen gut in Österreich integriert. Sie sind aber deutlich weniger als andere Zuwanderergruppen bereit, sich etwa mit Österreicherinnen und Österreichern zu verheiraten oder gar ihre religiöse (islamische) Zugehörigkeit abzulegen, wie eine neue soziologische Studie zeigt.

Schwammiger Betriff

Zu diskutieren ist auch die Feststellung von Ministerin Raab, die Zuwanderer müssten sich "integrieren". Dies ist ein äußerst breiter und schwammiger Begriff. Hier sind zwei Aspekte wichtig: der Grad der Integration und die Art und Weise, wie sie abläuft. Von einer totalen Integration könnte man beim völligen Aufgehen einer Zuwanderergruppe in der einheimischen Gesellschaft und Kultur sprechen, wie dies wohl bei einem großen Teil der in das Gebiet des heutigen Österreich zugewanderten Tschechen und Ungarn war. Darin muss man auch kein großes Problem sehen, weil die Integration doch freiwillig erfolgte. Dasselbe wird vermutlich bei den meisten Zuwanderern aus Ex-Jugoslawien passieren.

Bei den Zuwanderern aus der Türkei sieht es anders aus, da sie dem Islam, einer ganz anderen Religionsgemeinschaft, angehören. Wohl kaum jemand wird erst dann von ihrer vollen Integration sprechen, wenn sie sich auch vom Islam abwenden und katholisch oder konfessionslos würden. Aber auch im Hinblick auf die Sprache kann Integration nicht mehr einfordern, als dass die Zuwanderer die deutsche Sprache gut zu beherrschen lernen. Dagegen, dass sie daneben in der Familie eventuell ihr Türkisch oder Kurdisch weiter pflegen, wäre wohl kaum etwas einzuwenden – das machten Zuwanderer in den USA über viele Generationen.

Kultur fördern

So könnten also Serben, Kurden oder Türken, die in dritter Generation etwa in Wien, Vorarlberg oder anderswo konzentriert leben, sich durchaus organisieren und den Status einer anerkannten Volksgruppe einfordern. Es läge sogar im Interesse Österreichs, die Kultur der Zuwanderer anzuerkennen und zu fördern. So gibt es bereits jetzt die Möglichkeit für einen Zusatzunterricht in der eigenen Muttersprache in den Pflichtschulen und das Angebot, diese als Wahlfach in höheren Schulen zu wählen. Aus verschiedensten Gründen wird dies aber bei weitem nicht so oft angeboten oder angenommen, wie es möglich wäre. Sprachwissenschaftliche Studien zeigen jedoch, dass die gute Beherrschung der Muttersprache eine wichtige Voraussetzung für das Erlernen einer zweiten Sprache ist.

Man könnte aber auch an spezielle Radio- und Fernsehsendungen in den Sprachen der großen Zuwanderergruppen denken. Derzeit konsumieren viele Türken nur Medien aus der Türkei und erhalten damit vermutlich eine sehr einseitige Information. Es gibt zwar im ORF bereits Sendungen für Minderheiten, sie werden jedoch selten und zu ungünstigen Zeiten gesendet.

Im Interesse Österreichs

Alle Maßnahmen dieser Art würden den zugewanderten Türken das Gefühl geben, von Österreich nicht nur als Arbeitskräfte, sondern auch als Menschen mit eigener Kultur anerkannt zu werden. Damit würde sich auch ihre Integrationsbereitschaft in anderen Belangen erhöhen, etwa die Bereitschaft, um die Staatsbürgerschaft anzusuchen.

Österreich selbst, das umfassende wirtschaftliche und touristische Beziehungen mit der Türkei pflegt, könnte dadurch auch von seinen Mitbürgern im eigenen Land noch mehr profitieren. (Max Haller, 25.8.2020)