Seit Montagnachmittag steht außer Zweifel, dass der russische Oppositionelle Alexej Nawalny vergiftet worden ist. Die Ärzte an der Berliner Charité sind glaubwürdig, ihre Kollegen im sibirischen Omsk sind es nicht. Und es liegt auf der Hand, dass dies im Auftrag oder zumindest unter Billigung des Kreml geschah. Heimtückische Anschläge auf Kritiker haben in Wladimir Putins Russland System. Man kann es offen aussprechen: Der russische Präsident ist ein Anstifter von Serienmorden, er hat Blut an seinen Händen.

Aber Putin ist auch der Staatschef einer Großmacht, die direkt an die EU grenzt und politisch, wirtschaftlich und auch kulturell eng mit dem übrigen Europa verbunden ist. Russland ist auch deutlich weniger repressiv als die einstige Sowjetunion oder das heutige China. Es kann seine Nachbarstaaten destabilisieren, aber auch zur Lösung von Konflikten beitragen. Zahlreiche EU-Staaten, darunter Österreich, sind von russischem Erdgas abhängig und werden das trotz der angestrebten Abkehr von fossiler Energie noch für Jahrzehnte bleiben. Putin ist Europas Feind und Europas Partner – und zeigt darüber hinaus keinerlei Absicht, seine Macht aufzugeben.

Alexej Nawalny ist die wichtigste Oppositionsfigur Russlands.
Foto: imago/Sergei Bobylev

Wäre die Außenpolitik liberaler Demokratien nur von Moral bestimmt, dann müssten sie Moskau ächten und die Beziehungen, allen voran die wirtschaftlichen, massiv einschränken. Doch selbst nach der Annexion der Krim und der verdeckten Besetzung der Ostukraine 2014 geschah das nur halbherzig. Denn erstens helfen solche Schritte den von der Brutalität und Aggression des Regimes Betroffenen nur wenig. Und zweitens haben Staaten realpolitische Interessen, die sie auch im Sinne ihrer Bürger verfolgen müssen.

Untersuchung und Aufklärung

Diese Spannung zwischen Moral und Realpolitik, zwischen dem Wünschenswerten und dem Machbaren prägt auch die Reaktion der EU auf die Vergiftung Nawalnys. Es geht hier nicht nur um das Leben und die Gesundheit eines Mannes: Nawalny ist die wichtigste Oppositionsfigur Russlands, ein letzter Hoffnungsschimmer der Demokratie. Wird er ausgeschaltet, dann bröckelt der letzte Putz von Putins Regime, dann zeigt es sich offen als Diktatur.

Der Ruf nach einer unabhängigen Untersuchung und vollständiger Aufklärung, der nun aus Berlin und Brüssel erschallt, ist gerechtfertigt, aber zwecklos. Selbst wenn der Kreml die Vergiftung zugibt und irgendwelche Handlanger vor Gericht stellen lässt, bliebe die politische Verantwortung im Dunkeln. Deshalb könnten die EU-Spitzen die Verantwortung für den Anschlag Putin bald offen zuschreiben. Aber was dann?

Sanktionen haben auch nach der Krim wenig gebracht. Dennoch haben symbolische Gesten wie Einreiseverbote ihren Wert: Russlands Elite dürstet nach internationaler Anerkennung und den schönen Seiten des Lebens im Westen.

Österreich hat bisher eine Politik der relativ unkritischen Partnerschaft mit Moskau verfolgt. Russische Diplomaten werden zwar aus Wien wegen versuchter Industriespionage ausgewiesen, aber nicht, wenn das übrige Europa wie nach dem Giftanschlag auf den Ex-Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter 2018 eine Botschaft an den Kreml senden will. Der Fall Nawalny macht diese Haltung noch problematischer als bisher. Es spricht alles dafür, mit Russland im Gespräch zu bleiben – aber nur, wenn dabei nicht vergessen wird, um was für ein bösartiges Regime es sich dabei handelt. (Eric Frey, 25.8.2020)