Das Schreiben mit dem Stift oder dem Füller ist eine Kulturtechnik und im besten Sinne des Wortes auch Handwerk. Es bringt die Gedanken zum Fliegen, wie die Bestseller-Autorin Cornelia Funke poetisch festhält. Doch der Weg zu einer flüssigen Handschrift ist alles andere als leicht, wie man vielleicht aus eigener Erfahrung weiß oder bei den eigenen Kindern beobachten kann. So mancher ABC-Schütze scheint daran zunächst zu verzweifeln.

Aber Durchhalten zahlt sich aus, wie Marianela Diaz Meyer, Leiterin des deutschen Schreibmotorik-Instituts, im Gespräch mit dem STANDARD darlegt: Handschreiben fördert die Merkfähigkeit, das inhaltliche Verständnis, Kreativität, selbst das logische Denken – kurz: Es macht schlauer. Die Gründe dafür sind im Gehirn zu finden.

Ergonomie-Expertin Marianela Diaz Meyer leitet das deutsche Schreibmotorik-Institut. Sie setzt sich für die Förderung des Handschreibens ein und will aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zum Schriftspracherwerb aus verschiedenen Disziplinen in die pädagogische Aus- und Weiterbildung tragen.
Foto: Schreibmotorik Institut e.V.;

STANDARD: Warum ist es wichtig, eine Handschrift zu erlernen?

Marianela Diaz Meyer: Das Schreiben mit der Hand wirkt sich positiv auf unsere kognitive Entwicklung aus. Wenn wir vom Schreiben sprechen, denken wir zuerst an die Schrift, dabei sind die Bewegungen, die zur Schrift führen, entscheidend: die Schreibmotorik. Kleine Finger- und Handgelenkbewegungen ermöglichen erst die Ausgestaltung der Schrift. Dabei bewegen wir siebzehn Gelenke und mehr als 30 Muskeln im Hand-Arm-System. Man kann sich daher leicht vorstellen: Beim Schreiben sind mehrere Hirnareale – genau genommen zwölf – gleichzeitig aktiv.

STANDARD: Jetzt wird auch klar, warum es manchem in der Schule so schwerfällt, eine Handschrift zu erlernen.

Diaz Meyer: Das Schreiben per Hand ist ein komplexer, feinmotorischer Ablauf. Ein Stift ist ein Präzisionswerkzeug: Nur geübte Finger können dieses Gerät beherrschen. Leider stellen wir seit Jahrzehnten fest, dass Kinder immer weniger Bewegungsspiele spielen. Das wirkt sich nicht nur auf die Grobmotorik, sondern auch auf die Feinmotorik aus. Lehrerinnen und Lehrer stehen dann in der Schule vor der Herausforderung, dieses Defizit zu beheben.

STANDARD: Wie kann das gelingen?

Diaz Meyer: Unsere Studien haben gezeigt, dass schon eine Stunde Handschriftförderung in der Woche eine Reihe positiver Effekte hat. Und zwar über alle Fächer hinweg und weit über die Volksschule hinaus: Schreiben erhöht die Merkfähigkeit und die Kreativität. Man unterstützt dadurch auch das Lesenlernen – das Lernen im Allgemeinen. In einigen Schulen haben wir Pilotversuche unternommen, um den Schreiberwerb gezielt zu fördern. Wir haben gesehen, dass die Kinder motivierter waren, schneller und flüssiger schrieben.

Der Weg zu einer flüssigen Handschrift ist alles andere als leicht.
Illustration: Hedi Lusser

STANDARD: Dies wird auch von Hirnforschern und Psychologen unterstützt, die darauf verweisen, dass Kinder vor allem haptisch lernen und Buchstaben im wahrsten Sinne des Wortes erst einmal "begreifen" müssen.

Diaz Meyer: Genau. Handschrift erfordert größere feinmotorische Fertigkeiten und eine viel stärkere Differenzierung. Dadurch prägen sich die unterschiedlichen Buchstabenformen dauerhafter ein. Die Handschrift nützt dem Schriftspracherwerb mehr als das Tippen auf der Tastatur. Es ist eine komplexe Aufgabe, die man da zu meistern hat, aber es lohnt sich in vielerlei Hinsicht.

STANDARD: Aber manche werden sagen: Beim Tippen auf einer Tastatur bewege ich ja auch meine Finger, mancher sogar recht schnell. Wo ist da der gravierende Unterschied?

Diaz Meyer: Dieses Argument kommt oft. Tatsächlich ist es aber so, dass ich beim Tippen mit der immer gleichen Bewegung zu einem Buchstaben gelange. Egal, ob A oder Z, das Antippen ist immer gleich. Wenn ich ein Schriftzeichen per Hand schreibe, muss ich Bewegungen vollführen, die bei jeder Letter anders aussehen. Jeder Buchstabe hat einen anderen charakteristischen Bewegungsablauf. Und diese kleinsten, differenzierten Bewegungen sind es, die das Gehirn aktivieren und uns beim Lernen helfen. Denn Schreibende benutzen viele Modalitäten im Gehirn.

STANDARD: Gilt das gleichermaßen für Erwachsene wie für Kinder?

Diaz Meyer: Man kann davon ausgehen, dass die gesamte kognitive Entwicklung von Kindern durch Schreiben stärker befruchtet wird als durch Tippen, weil mehr benachbarte Funktionen – Vorstellungskraft, Kreativität, Rechtschreibung, Erinnerungsvermögen – angeregt werden. Zudem wird bei der Verarbeitung von Text in Form von Handschreiben eine motorische Gedächtnisspur im Gehirn angelegt, auch bei Erwachsenen. Es gibt mehrere wissenschaftliche Studien, die ganz eindeutig belegen, dass das Tippen am Computer das Schreiben von Hand beim Lernen nicht ersetzen kann.

STANDARD: Ist Tippen denn schlecht?

Diaz Meyer: Nein, Tippen ist selbstverständlich nicht verwerflich. Viele Menschen schreiben auf der Tastatur schneller als per Hand. Aber wenn es darum geht, das Geschriebene zu behalten, das heißt, zu lernen, hält man es besser handschriftlich fest. Beim Schreiben per Hand nutzt man sein Gehirn – im besten Sinne des Wortes.

STANDARD: Wie real ist die Gefahr, dass die Handschrift einmal verschwinden könnte? Auch angesichts der durch die Corona-Pandemie angestoßenen Entwicklungen hinsichtlich einer beschleunigten Digitalisierung.

Diaz Meyer: Die Medien ändern sich, die Handschrift bleibt. Das sieht man auch daran, dass es zahlreiche Versuche gibt, analoges Schreiben in die digitale Welt einzubinden. Ich denke da an Tablets mit entsprechendem Stift, Augmented Paper etc., wo die Handschrift digitalisiert wird. Noch ist die Technologie – was zum Beispiel die Haptik oder die Ergonomie betrifft – nicht ausgereift, aber es sind erste Ansätze zu erkennen, die zeigen, dass die Handschrift auch da eine Rolle spielen wird. Ich bin kein Gegner der Digitalisierung, sie sollte nur nicht zu schnell und ohne didaktisches Konzept voranschreiten. Wir machen uns bereits Gedanken darüber, wie so ein Konzept aussehen könnte. Die Schreibmotorik wird dabei jedenfalls eine wichtige Rolle spielen.

STANDARD: Das Thema Handschrift kocht alle paar Jahre hoch und wird tatsächlich auch durchaus emotional diskutiert. Woher kommt das? Und ist das nur in den deutschsprachigen Ländern der Fall?

Diaz Meyer: Es ist ein Thema, das die Wissenschaft weit über den deutschen Sprachraum hinaus bewegt. Wir arbeiten zum Beispiel auch mit französischen und englischen Institutionen zusammen. Es gibt international besetzte Symposien, Studien etc. Die Probleme mit dem Handschreiben gibt es nicht nur in Deutschland oder Österreich, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Denn trotz flächendeckender Schulpflicht verfügen 20 Prozent der Jugendlichen und etwa 75 Millionen Erwachsene in Europa nur über unzureichende Lese- und Schreibfertigkeiten. Deshalb fordert die Europäische Kommission einzelne Länder dringend zum Handeln auf.

STANDARD: Interessant ist, dass im Alltag einerseits zwar weniger Menschen mit der Hand schreiben, andererseits aber Handlettering- oder Kalligrafiekurse einen Boom erleben.

Diaz Meyer: Ja, offenbar gibt es eine Sehnsucht danach. Wir sehen Handschreiben allerdings nicht auf die schöne Gestaltung eines Buchstabens oder Schönschrift verengt. Das mag eine feine Freizeitbeschäftigung sein, wir sehen das Schreiben per Hand als Lerninstrument, es geht uns konkret um das Lernen. Die Schrift selbst soll lesbar und flüssig sein. Vollkommen unabhängig von der Schriftart – weil auch dieses Kapitel immer wieder diskutiert wird. Viel eher sollte im Mittelpunkt der Debatte stehen, wie Handschreiben unser Gehirn beim Lernen positiv beeinflusst. Aber auch die Kreativität, selbst die Logik.

"Das Schreiben mit der Hand wirkt sich positiv auf unsere kognitive Entwicklung aus", sagt Marianela Diaz Meyer.
Illustration: Hedi Lusser

STANDARD: Wie das?

Diaz Meyer: Vieles fängt mit der Hand an, etwa mit einer Skizze, einer Notiz. Erst im zweiten oder dritten Schritt erfolgt die Digitalisierung. Auch Personen, die 3-D-Animationen gestalten, fangen meist mit einer Skizze von Hand an. Wenn man gleich mit dem Computer beginnt, geht beim kreativen Prozess etwas verloren. Handschreiben bereitet die Basis für eine ganze Reihe von anderen Prozessen. Wenn ich etwas niederschreibe, dann schreibe ich das sozusagen direkt ins Gehirn.

STANDARD: Ob jemand eine schöne oder furchtbare Handschrift hat, spielt demnach keine Rolle?

Diaz Meyer: Unsere Handschrift ist wie unser Fingerabdruck, höchst individuell und unverkennbar. Drei Aspekte machen eine gute Handschrift aus: Lesbarkeit, Tempo und Ausdauer. (Markus Böhm, RONDO, 31.8.2020)