Vielschichtig spielt Anne Teresa De Keersmaeker mit den Stereotypen einer ins Alter verlängerten Jugendlichkeit: Die nachgeholte Festwochen-Premiere geriet zum Glanzstück.

Foto: Anne van Aerschot

Eine Frau kennt ihr Alter, ihren Körper und dessen Tanz. Und sie kennt ihren Bach. Anne Teresa De Keersmaeker präsentiert zum Einstand der verschobenen Wiener Festwochen im Museumsquartier die Uraufführung ihrer Soloarbeit The Goldberg Variations, BWV 988. Und die gefeierte flämische Choreografin demonstriert ihre unprätentiöse Meisterschaft.

Ihr künstlerischer Status kommt nicht von ungefähr. Vor vierzig Jahren hat sich das damals 20-jährige Ausnahmetalent mit dem Duett Asch erstmals als Choreografin und Tänzerin vorgestellt. Zwei Jahre danach kam der Durchbruch mit Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich, 1983 die Gründung der Company Rosas mit dem Stück Rosas danst Rosas, das als moderner Klassiker bis heute aufgeführt wird.

Alternder Tanzkörper

Damals ging es um die Darstellung weiblichen Selbstbewusstseins. Jetzt kommt De Keersmaeker wieder darauf zurück, wenn auch auf persönlichere Art. In dem neuen Solo, eigentlich ein Duett mit dem in London lebenden russischen Pianisten Pavel Kolesnikov (31), tanzt sie den weiblichen Part. Wer vor Beginn der knapp zweistündigen Premiere am Mittwoch befürchtet hat, De Keersmaeker könnte dem Pathos der Dekonstruktion ihres alternden Tänzerinnenkörpers verfallen, wurde eines Besseren belehrt. Denn die Choreografin konzentriert sich auf ein vielschichtiges Spiel mit dem Trend einer bis ins Alter gezogenen Jugendlichkeit. Ausschlaggebend dabei sind weniger die Beweglichkeit und Virtuosität im Tanz, sondern vielmehr die Konsequenz und Ironie der dunklen Töne, die sie in juvenile Trugbilder mischt.

Anfangs tritt sie in einem leichten, halb durchsichtigen schwarzen Kleidchen auf, zusammen mit ihrem Pianisten, der nur ein weißes Ruderleiberl und Freizeithosen anhat. Kolesnikov spielt Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen barfuß mit einer Brillanz, die zuerst nicht so recht zu De Keersmaekers Bewegungen zu passen scheint.

Wie eigens für sie geschrieben

Doch bald stellt sich heraus, dass der Pianist in seiner perfekten Interpretation dieser Musik weder prunkt noch perlt. Er spielt den Bach so selbstverständlich, als wäre er ihm angeboren, während die Tänzerin sich mit dieser Musik so spielt, als hätte der Komponist sie für diesen Anlass geschrieben.

Dementsprechend tanzt De Keersmaeker aus der Musik heraus, zitiert etwa aus ihrem Frühwerk Fase oder wiederholt in den Variationen nach der Aria mit den Händen eine Geste, mit der im Film der Bildausschnitt für die Kamera ausprobiert wird. Dieses Finger-Framing verweist auf ein großes, silbrig glitzerndes Rechteck an der rechten Bühnenwand, dessen Beleuchtungsfeld sich im Lauf des Stücks langsam nach unten bis hin zum Flügel des Pianisten verschiebt.

Glitterverliebtheit der Jugend

So widerspiegelt ein visuelles Aus-dem-Rahmen-Gleiten die Abweichungen der Tänzerin in ihren Persiflagen von aufgesetzter Koketterie, bis ins Slapstickhafte getriebenem Jonglieren mit Stereotypen der Jugendlichkeit und prickelndem Witz bei ihren Anspielungen auf die Glitterverliebtheit der Popkultur. Aus einem Gestell gefallen scheint ein Stahlrohr zu sein, das De Keersmaeker am Ende des ersten Teils mit einem Tritt in Bewegung versetzt, sodass es rumpelnd aus dem Bühnenhintergrund bis nach vorn an die Rampe rollt. Dort wird es von dem Pianisten gestoppt.

Zu Beginn von Teil zwei muss es wieder zurück. Die Atmosphäre wird wechselhaft, lockert auf und verdichtet sich wieder. De Keersmaeker richtet ihren Blick wiederholt ins Publikum, wie um es auf die Bühne zu ziehen und dann wieder loszulassen. Sie schlüpft unters Klavier, sackt zu Boden, streckt sich, zeigt ihren nackten Rücken, lässt ihre Schuhe auf dem Tanzboden quietschen. Nur kurz mischen sich Misstöne in das Klavierspiel, ab und zu finden Tanzszenen in Stille statt.

Das Publikum reagierte überzeugt. Zu Recht, denn De Keersmaeker gelingt ein Glanzstück ihres bisherigen Œuvres. (Helmut Ploebst, 28.8.2020)