Eine Sicherheitstür an der Synagoge von Halle an der Saale in Sachsen-Anhalt machte am 9. Oktober 2019 den Unterschied zwischen Leben und Tod für 51 Menschen aus. So viele Gläubige befanden sich anlässlich des jüdischen Feiertags Jom Kippur im Inneren des Gebetshauses, als der Rechtsradikale Stephan Balliet einen Anschlag verübte. Wäre es ihm gelungen, durch die Tür in dien Räumlichkeiten einzudringen, hätte er mutmaßlich ein Massaker angerichtet.

Diese Tür der Synagoge in Halle rettete 51 Leben.
Foto: Imago

Man könnte also von einer geglückten Sicherheitsmaßnahme sprechen, wäre da nicht ein Haken: Die 13.000 Euro, die die spezielle Tür gekostet hat, wurden von einer israelischen Wohltätigkeitsorganisation aufgebracht. Es war nicht der deutsche Staat oder das Land Sachsen-Anhalt, die sich um die Sicherheit der Juden in Halle gekümmert hätten. Sie mussten selbst etwas organisieren. Zwar gibt es einen Staatsvertrag zwischen Sachsen-Anhalt und den jüdischen Gemeinden. Dort heißt es allerdings: "Näheres bleibt besonderen Vereinbarungen vorbehalten."

Dass es zu solchen Vereinbarungen im Fall von Halle nicht kam, dass Deutschland für den Schutz der Synagoge und der Gemeinde nicht ausreichend aktiv wurde, ist für den Journalisten Ronen Steinke ein wesentlicher Aspekt in seinem Buch Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Es ist ausdrücklich als Anklage konzipiert und geschrieben. Steinke ist Journalist bei der Süddeutschen Zeitung und selbst Jude.

In einer Mischung aus Reportage und Analyse arbeitet er heraus, dass die Behörden in Deutschland sich dem Problem des Antisemitismus nicht ausreichend stellen. Vor allem dort, wo es darauf ankommt: vor Ort, bei den Gemeinden, auf den Friedhöfen, bei der Polizei und in den Gerichten, wenn Delikte zur Anzeige gebracht werden, die aus Hass begangen wurden.

Versagen der Exekutive

Oft sind es Aggressionen in Wort und Tat, die den Alltag vergiften. Schmierereien, Pöbeleien, Beleidigungen, Drohungen. Steinke ruft aber auch eine Reihe von Verbrechen noch einmal in Erinnerung, die in Deutschland nach 1945 gegen Juden begangen wurden. Er beginnt mit dem Mord an Shlomo Lewin, dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Erlangen, der 1980 zusammen mit seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke erschossen wurde.

Die Ermittlungen werden bemerkenswert einseitig geführt. Statt die Spuren zu Neonazis und besonders zur Wehrsportgruppe Hoffmann genau zu untersuchen, beschäftigt sich die Polizei genau mit dem jüdischen Umfeld von Lewin und seinem "bunten Lebenslauf", wie der Staatsanwalt anzüglich bemerkt. Steinke zieht deutliche Parallelen zu dem Versagen der Exekutive bei der Aufklärung der NSU-Morde und schließt aus diesem und vielen anderen Beispielfällen: "Judentum in Deutschland, das ist heute Religionsausübung im Belagerungszustand."

Dieser dann doch sehr pauschale Befund ist bis zu einem gewissen Grad dem Genre des Buchs geschuldet: Eine Anklage muss nun einmal alles aufführen, was ihr beklagenswert erscheint. Und so erweist sich schließlich als der fast wichtigere Teil eine fast achtzig Seiten lange Chronik antisemitischer Gewalttaten in Deutschland seit 1945. Einige Beispiele: Oktober 1965. Vier Schüler werfen auf dem jüdischen Friedhof in Hildesheim 92 Grabsteine um. 7. Oktober 2000. Etwa 250 randalierende libanesische Palästinenser greifen nach einer Demonstration mit Steinen und Schreckschusspistolen die Alte Synagoge in Essen an. Es werden mehr als 30 Fenster zerstört. 19. Jänner 2020: Vor dem Eingang der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora in Thüringen wird in einem abgelegten Paket ein zündfähiger Sprengsatz gefunden.

Ronen Steinke, "Terror gegen Juden. Wie anti-semitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt". € 18,50 / 256 Seiten. Berlin-Verlag 2020
Foto: Berlin-Verlag

Eine besondere Verantwortung

In den Kapiteln davor beschäftigt Steinke sich reflektierend mit antisemitischer Gewalt in Deutschland. Er findet da zum Beispiel in dem prominenten Achtundsechziger Dieter Kunzelmann einen Protagonisten einer antisemitischen Gewalt, die es eigentlich ein für alle Mal unmöglich hätte machen müssen, dass er später zu einer wichtigen Figur in der Gründungsgeschichte der Grünen hätte werden können. Da es Steinke aber um ein deutliches Gesamtbild geht, kann er auf die komplexe Geschichte des linken Antizionismus (in der Kunzelmann zweifelsohne als Hassprediger nicht allein ist) nicht in dem Maß eingehen, wie es in einem genauer erörternden Buch angebracht wäre.

Steinke mahnt mit vielen Beispielen ein, dass der deutsche Staat seiner besonderen Verantwortung gegenüber den wenigen jüdischen Gemeinden, die nach der NS-Vernichtungspolitik wieder entstanden waren, eher in Form von politischen Zeichenhandlungen als im Alltag der Behörden gerecht wird. Dass es in Deutschland "kein angstfreies jüdisches Leben" gibt, erfordert tatsächlich jede erdenkliche Maßnahme, nicht zuletzt bei der Verfolgung von Hassdelikten, die vielen Gerichten derzeit nicht ausreichend ahndbar erscheinen. Dass viele Juden wegen der AfD, wegen des muslimischen Antisemitismus und eines erstarkenden Rechtsradikalismus Überlegungen anstellen, wo sie sich sicherer fühlen würden, ist ein Befund, der letztlich aber auch die Zivilgesellschaft herausfordert. (Bert Rebhandl, 29.8.2020)