Johanna Mikl-Leitner empfing im Jahr 2015 Flüchtlinge am Westbahnhof. Heute sagt sie, sie sorgte lediglich für die reibungslose Umsetzung einer Fehleinschätzung auf Staatschefebene.

Foto: apa / herbert pfarrhofer

Oft wirkt es so, als wären die Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und die Innenministerin Johanna Mikl-Leitner unterschiedliche Personen: Freundlich, verbindend und um Menschlichkeit bemüht in ihrer heutigen Rolle als Landeschefin; strikt und konsequent als Innenministerin von 2011 bis 2016. Doch zu Beginn der großen Fluchtbewegung im Jahr 2015 zeigte die Niederösterreicherin nicht nur politische Härte – ein Aspekt, den sie heute allerdings nicht mehr betonen will.

Für Mikl-Leitner steht ihr Widerstand gegen die organisierte Durchreise tausender Flüchtlinge von Ungarn über Österreich nach Deutschland rückblickend im Vordergrund: "Ich habe das als völlig falsches Signal empfunden. Es war klar, da brechen jetzt die Dämme. Und dem war dann auch so", sagt sie über die politische Vereinbarung im Jahr 2015, hunderttausende Flüchtlinge von Ungarn über Österreich nach Deutschland reisen zu lassen. Sie habe schon bevor die Flüchtlingskrise offensichtlich wurde "ohnedies seit Monaten gewarnt", dass eine große Fluchtbewegung bevorstehe. Nur habe niemand auf sie gehört.

"Es war Mord"

Die Flüchtlingskrise war Ende August bereits akut, als sie mit der Katastrophe von Parndorf zusätzliche Tragik erfuhr: 71 Menschen waren in einem LKW erstickt. Sie hatten versucht, mithilfe eines Schleppers über die Grenze zu kommen. Mikl-Leitner war an diesem Tag bereits für einen Lokalaugenschein im Nickelsdorf, als sie die Nachricht erhielt – da war sie gerade in einer Besprechung mit Exekutivbeamten und dem damaligen Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil.

"Ich war fassungslos und wütend angesichts der Tatsache, dass den Schleppern offensichtlich jedes Mittel Recht ist für ihre Geschäftemacherei", sagt die heutige Landeshauptfrau zum STANDARD. "Da gibt es nichts zu beschönigen, es war im wahrsten Sinne des Wortes Mord."

Im Jahr 2020 sagt Mikl-Leitner, Parndorf hätte "jedem klarmachen müssen, was zu tun ist: Nämlich den Kampf gegen die Schlepper zu intensivieren und die Außengrenzen zu schützen".

Bebendes Herz am Bahnhof

Wenige Tage später war Mikl-Leitner selbst am Westbahnhof, wo zehntausende Flüchtlinge in Zügen aus Ungarn ankamen. "Mein Herz bebt bei diesen Bildern", sagte sie damals mit Blick auf die ankommenden Menschen. Heute erklärt sie, sie habe "das natürlich alles miterlebt, wie in dieser Zeit fast 20.000 Menschen täglich über die Grenze gekommen sind – und jeder hat gewusst, dass wir damit an die Grenzen unserer Kapazitäten kommen".

Aber "selbstverständlich war es auch meine Verantwortung die Situation direkt vor Ort zu beurteilen und mich bei den Ehrenamtlichen für den großartigen Einsatz zu bedanken".

Das "Weiterwinken" der Flüchtlinge habe sie "in der ersten Sekunde als falsches Signal beurteilt, weil ich wusste, dass es nur zu einer Beschleunigung der Flüchtlingskrise und der Geschäftemacherei der Schlepper führen kann". Aber die Entscheidung war gefallen: Der damalige Kanzler Werner Faymann (SPÖ) und die deutsche Regierungschefin Angela Merkel (CDU) waren sich einig. "Nach dieser Entscheidung war es wichtig, sicherzustellen, dass dieser Transfer ohne Konflikte über die Bühne geht."

Rückkehr nach St. Pölten

Diese Zeit sei für sie als Innenministerin "unglaublich herausfordernd" gewesen, man habe aber insbesondere auf europäischer Ebene viel erreicht: "Wir haben ein Umdenken auf europäischer Ebene erzielt, dass ganz klar unterschieden werden muss zwischen jenen, die Recht auf Asyl haben und jenen, die das nicht haben."

Im April 2016 ereilte sie der Ruf Erwin Prölls: Es war absehbar, dass sich der damalige Landeshauptmann bald zurückziehen werde – und somit Zeit für Mikl-Leitner, in die Landespolitik zurückzukehren, um sich für den Antritt seiner Nachfolge vorzubereiten. "Es war viel geschafft und die Zahl der Neuanträge begann dadurch stark zu sinken – damit war das ein guter Zeitpunkt für mich, nach Niederösterreich zurückzukehren", sagt Mikl-Leitner. Ein Jahr später wurde sie vom Landtag zur Landeshauptfrau gewählt. (Sebastian Fellner, 5.9.2020)