Pst! Der Arzt, der mein Herz untersuchte, verließ sich nicht auf die Befunde und auf die modernen bildgebenden Verfahren. Er wollte das Klopfen mit eigenen Ohren hören. Er lauschte, das Stethoskop im Ohr, mit aufmerksamer, ernster Miene. Ich wollte etwas sagen, etwas über das Herzklopfen mit Schweißausbrüchen, das mich manchmal morgens im Bus überfällt, doch er bedeutete mir, still zu sein, dabei rutschte sein kalter kleiner Trichter mit winzigen Schritten über meinen Brustkorb. Als er fertig war, hängte er sich das Stethoskop wieder um und sagte unerwartet: "Ich weiß wohl, wer Sie sind."

Ramponiert: "Europa ist eine sternengeschmückte Fahne, die gelegentlich gehisst wird. Ein geografischer Begriff, kein kulturhistorisches und geistiges Kraftfeld."
Foto: Imago

Ich war sehr überrascht, ich hatte das Gefühl, er habe tatsächlich die Geheimnisse meiner Seele auskultiert und teile mir jetzt im Vertrauen mit, dass er alle meine Geheimnisse kenne, denn er habe an den Arterienwänden das Sirren des Verlangens gehört, das Zischen lange gehüteten Zorns und das feine Trommeln mir selbst verschwiegener Regungen. "Ich weiß, dass Sie eine Schriftstellerin, eine Dichterin sind. Ich habe eines Ihrer Bücher gelesen, das mit den Pixeln. Sie sind also so eine abstrakte Frau?"

Ich sah ihn verdutzt an. Glaubte er denn wirklich, zwischen unseren beiden Professionen gebe es eine große Kluft? Dass ein Dichter ein lebensfremdes Wesen sei, das zu Hause hocke, von der Welt abgeschieden, durch das Fenster hinausstarre und den ganzen Tag nur darauf warte, dass die scheppernde Müllabfuhr endlich die Gasse freigibt und die Inspiration um die Ecke biegen kann?

Die Welt ist aus den Angeln gehoben

Halten wir hier kurz inne. Jede Wette, dass auch Sie das denken! Oder dass zumindest einige unter Ihnen das denken, sich einen Dichter als weltfremdes, einsames Wesen mit einer wirren Mähne vorstellen, das zu Hause herumhockt und prinzipiell nichts tut. Na ja, von Zeit zu Zeit schreibt es ein paar Zeilen nieder. Ich seufzte tief, tiefer als vorhin, als der Doktor mich tief atmen ließ. Das Gedicht ist nämlich kein Destillat, keine bloße Abstraktion, sondern die parallele, sinnliche Wirklichkeit selbst, das Gedicht ist die Essenz unseres Daseins. Das Gedicht ist eine EKG-Kurve.

Seitdem sind Monate vergangen, und die Welt ist aus den Angeln gehoben worden. Große Sorgen kurieren kleine Sorgen, sagt man bei uns. Auch mein häufiges Herzrasen hat sich zu einer gleichmäßigen, disziplinierten, im Zaum gehaltenen Angst gewandelt. Eine Seuche fegt über die Welt und mahnt uns zur Demut. In dem Moment, als der Mensch begann, sich allmächtig zu wähnen, als er beinahe alles über das menschliche Genom erfahren hatte, kam ein winziges Virus und lehrte ihn das Fürchten.

Hier, in Europa, herrscht trotz der explosiven Spannungen Frieden. Einen Krieg im klassischen Sinn gab es zuletzt auf dem Balkan in den Neunzigern. Jetzt, in den letzten Monaten, konnten wir die Angst spüren, konnten erfahren, wie es ist, wenn unser Leben aus dem Gleis gerät, konnten erfahren, dass wir unsere geringe erlittene Unbill zur Seite schieben und zusammenhalten müssen, wenn wir überleben, wenn wir die Plage aushalten wollen. Die Ärmsten, an der Peripherie Lebenden werden jetzt rettungslos an den äußersten Rand der Gesellschaft gedrängt, sie gehen verloren, werden auf die Straße gezwungen und verhungern. Wir müssten unser Augenmerk am ehesten auf sie richten.

Wir sprechen seit Jahren von der Umweltverschmutzung, der Klimakrise, vom Überkonsum und von den tödlichen Auswirkungen der extrem beschleunigten Welt, doch scheint es, als hätten wir die jetzige Heimsuchung gebraucht, um eines zu begreifen: Wir sind am Ende. Wir müssen unsere Lebensweise gründlich überdenken. Was geschehen ist und auch jetzt noch geschieht, ist furchtbar, doch scheint die Menschheit alles das gebraucht zu haben, um ihre Reizschwelle zu erreichen. Wir konnten erfahren, wie es ist, nach dem nervenzerfetzenden, anhaltenden Getöse auf einmal der tauben Stille in den Straßen zu lauschen. Jeder steht verdutzt da, dreht und wendet sich und kann es kaum glauben.

Klimakrise und Überkonsum

Haben wir das tatsächlich gebraucht, um die so oft wiederholten Begriffe Klimakrise, Klimakrise, Klimakrise und Überkonsum, Überkonsum, Überkonsum endlich zu begreifen und zu beginnen, über deren ursprüngliche Bedeutung nachzudenken? Muss uns zu Hause die letzte Marmelade ausgehen, muss das letzte Breitmaulnashorn aussterben und muss auch das letzte Krankenhaus, das noch über ein Beatmungsgerät verfügt, aus allen Nähten platzen, damit wir endlich den Sinn der Worte verstehen?

Wie oft haben wir denn in unserem Erwachsenenleben das Wort Rassismus gehört? Der Tod George Floyds, die konkrete Bilderfolge der sinnlosen und brutalen Leiden eines konkreten Menschen erfüllen das Wort neuerlich mit Bedeutung, und die Protestbewegung Black Lives Matter fegte mit der Kraft eines Hurrikans über die USA hinweg, dann auch über uns, über Europa. Mit genau derselben Kraft wie zuvor die Flüchtlingskrise und Me Too. Bald wird auch Black Lives Matter sich legen, wie sich die Wogen von MeToo geglättet haben.

Was wird im nächsten Jahr von diesem kämpferischen Schwung geblieben sein? Der eine oder die andere farbige TV-Moderator/Moderatorin? Was ist denn von MeToo geblieben? Wir können uns schon freuen, wenn Blondinenwitze in Gesellschaft leiser erzählt werden. Wir können uns freuen, denn das ist schon etwas. Ein Dichter aber wird in meiner Heimat und auch sonst vielerorts weiterhin ein vollbärtiger, aber zumindest ein brillentragender Mann sein, und dass dieses Bild sich ändert, wird selbst nach optimistischen Schätzungen Jahrzehnte dauern. Wird es uns gelingen, unser Denken infolge der Wellen der aufeinanderfolgenden Bewegungen und Krisen zu reformieren? Sehen wir die mahnenden Zeichen?

Ich schreibe das als Bürgerin eines Landes, das die Istanbul-Konvention nicht ratifiziert hat. Als Bürgerin eines Landes, in dem Gewalt in der Familie tagtäglich Probleme verursacht, wo der Rassismus, in erster Linie die Diskriminierung gegen Roma und die Hassrede gegen Flüchtlinge, oft zur offiziellen Propaganda gehört. Wo man selbst im Parlament ungestraft Witze über Frauen reißen darf.

Sagt uns das vielbeschworene Wort "Europa" noch etwas? Besitzt dieses Wort eine Bedeutung, denken wir überhaupt an etwas, wenn wir es täglich fünfzehnmal aussprechen, oder muss ein neuer Kataklysmus eintreten, um dieser Buchstabenfolge wieder Bedeutung zu verleihen?

Ich frage das als Bürgerin eines Landes, das hier, im kranken, arteriosklerotischen Herzen Europas liegt, und erst seit 2004 ein Teil der Europäischen Union ist. Damals, in jenem Jahr, haben wir Ungarn verstanden, was dieses Wort für uns bedeutet, doch seitdem ist seine Bedeutung verblasst. Taucht es auf, dann meistens im Zusammenhang mit Subventionen der EU. Europa ist eine sternengeschmückte Fahne, die bei gewissen Gelegenheiten gehisst wird. Ein geografischer Begriff, kein kulturhistorisches und geistiges Kraftfeld.

Spukt die Geistergestalt seiner ursprünglichen Bedeutung herum, dann ist sie meistens gegen etwas gerichtet. Warum wohl? Europa ist dann der Ort, der gegen die Barbarei, gegen die Überflutung, gegen die Migranten verteidigt werden muss. Oder es ist eine bedrohliche Idee, die unsere Einzigartigkeit, unsere nationalen Charakterzüge abschaffen will. Um Himmels willen, ist es das, was Europa wirklich bedeutet? Und glauben wir tatsächlich, dass das Herz der Welt hier schlägt?

Die Hauptschlagadern Europas

Und überhaupt, bleiben wir für einen halben Moment still: Schlägt es noch? Puh, welche Erleichterung. Ich höre es schlagen. Und Sie? Vergegenwärtigen wir uns doch, was Europas Hauptschlagadern sind! Die jüdisch-christliche und die griechisch-römische Kultur, nicht wahr? Diese nähren es noch immer, diese erinnern uns bei jedem Atemzug daran, dass wir Europäer sind. Wir verspüren es erst dann wirklich, im vollen Ausmaß, wenn uns das Schicksal an einen anderen Ort der Welt verschlägt.

In Amerika oder in Asien verspüren wir sofort und trotz Sprachgrenzen und kultureller Unterschiede mehr Gemeinsamkeit mit anderen Europäern, denn in einer konkreten Situation fühlt man die historische und schicksalsgegebene Gemeinsamkeit viel eher als eventuelle Unterschiede. Bedenken Sie nur, welche Gemeinsamkeit der einfache Reisende im Ausland spürt, wenn er Worte in seiner Muttersprache vernimmt, andererseits weicht die Gemeinsamkeit, wenn er morgens in einem stickigen Autobus gegen seine Landsleute geschleudert wird.

Dort, in der Masse nach Luft schnappend, fällt es ihm nicht ein, wie schön es ist, seine süße Muttersprache zu hören. Falls es aber doch ein so sonderbares Wesen geben sollte, dann muss es sich um einen Dichter handeln. Wenn dieses Wesen nicht zu Hause sitzt, wenn es nicht darauf wartet, dass die scheppernde Müllabfuhr endlich die Gasse freigibt und die Inspiration um die Ecke biegen kann, dann sammelt es Wörter. Und wenn es gerade keine Wörter sammelt, lauscht es. Es lauscht mit ernstem Gesicht nach innen, genauso wie jener Kardiologe mit seinem Stethoskop. Seufzen wir unter unseren Masken einmal tief auf, so, alle zugleich. Etwas klappert hier in der Herzgegend. Wir haben ein Problem in Europa. Glauben Sie es uns. Vielleicht zeigen das die bildgebenden Verfahren noch nicht an, aber wir hören es. Das Gedicht verweist darauf. Seien wir still, lauschen wir! Lesen wir Gedichte. (Krisztina Tóth, 29.8.2020)