Wie hat sich der Corona-bedingte Lockdown der Schulen aus der Perspektive einer NMS-Direktorin gezeigt? Erika Tiefenbacher erzählt, was sie an den Kindern beobachtet hat und welche Schlüsse sie daraus für das kommende Schuljahr zieht bzw. was bildungspolitisch im Herbst notwendig wäre.

NMS-Direktorin Erika Tiefenbacher.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Welche im engeren Sinn auf Bildung bezogene Folgen hatte der Lockdown auf die Kinder?

Tiefenbacher: Das vergangene halbe Jahr war ein mehr oder weniger verlorenes Semester. Genauer: Zwei Drittel unserer Kinder haben verloren, ein Drittel nicht. Letztere hatten daheim Unterstützung. Homeschooling heißt Dinge selbst erarbeiten und erfordert Geduld. Die haben Zehn- bis 14-Jährige nicht, egal, ob mit oder ohne Migrationshintergrund. Einige wenige, die nicht so im sozialen Gefüge mitfließen, haben sich mit Online-Unterricht sogar leichter getan. Schlimm ist es für die Kinder in den Deutschförderklassen, weil ja der größte Lernfortschritt mit dem Sprechen erfolgt. Sie mussten dann auch noch einen Test machen, und jetzt müssen einige die Klasse wiederholen. Diese haben wirklich ein Jahr verloren. Manche Kinder haben auch Angst vor der Schule, weil das Bildungsloch so groß ist, das aufgerissen wird. Die soziale Schere vergrößert sich durch den Lockdown.

STANDARD: Welche sozialen, psychologischen oder verhaltensbezogenen Reaktionen konnten Sie sehen?

Tiefenbacher: Nach dem Lockdown waren die Kinder schaumgebremst, viel ruhiger. Ihnen haben die Kontakte gefehlt, die Freude und der Spaß in der Schule. Sie sind auch in der Pause sitzen geblieben, haben die Maske aufbehalten. Wir sehen bei vielen Vereinsamung, die waren lange allein zu Hause, und es gab nur den Chatroom. Außerdem kämpfen viele total mit Computersucht. Kinder zwischen zehn und 14 wollen selbstständig sein, aber sie brauchen Strukturen. Im Lockdown haben sie nur die Eltern als Erwachsene, die wissen, wie die Regeln sind, und wenn die dann nicht da sind, gibt es auch keine Entwicklung, weil sie nicht angeregt werden.

STANDARD: Was wünschen Sie sich nach den Erfahrungen mit Homeschooling für das neue Schuljahr?

Tiefenbacher: Am wichtigsten ist Regelunterricht, also ganz normaler Schulbetrieb mit allen Schülerinnen und Schülern. Und wenn das Corona-bedingt nicht geht, dann wollen wir uns aussuchen dürfen, welche Kinder in die Schule kommen müssen und wer Distance-Learning machen kann. Die Schulen müssen im Herbst Bildungsziele definieren dürfen, weil wir jedes Kind kennen. Ich will die Autonomie, sagen zu können, dieses Kind braucht verstärkt Mathematik und jenes mehr Deutsch. Wir brauchen mehr Individualisierung und Kleingruppen. Und dafür brauche ich auch Ressourcen.

ZUR PERSON:

Erika Tiefenbacher studierte an der Uni Wien Pädagogik und ist seit 2003 Direktorin der NMS Schopenhauerstraße in Wien-Währing, wo fast 100 Prozent der Schulkinder Migrationshintergrund haben.

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Über die weitreichenden Folgen der geschlossenen Schulen (bis auf die durchgehend angebotene Notbetreuung waren sie zu) sei bislang viel zu wenig gesprochen worden, kritisiert die Lehrerin Susanne Wiesinger. Einige Kinder seien buchstäblich "verloren gegangen" oder tatsächlich aus dem Schulsystem verschwunden, weil niemand sich gekümmert hat.

NMS- und nun Volksschullehrerin Susanne Wiesinger.
Foto: Heribert Corn

"Nie war die soziale Ungleichheit größer"

Wenn Susanne Wiesinger jetzt dauernd hört, dass es nach den Ferien einen "normalen" Schulstart geben soll, dann wundert sie sich: "Alles normal? Der Lockdown, als die Kinder wochenlang zu Hause sitzen mussten, war eine Katastrophe vor allem für jene in sogenannten Brennpunktschulen. Das aber kommt in der Corona-Debatte überhaupt nicht vor", sagt sie im STANDARD-Gespräch. "Diese Episode wurde viel zu wenig aufgearbeitet. Nie war die soziale Ungleichheit größer. Da kommt noch was", warnt sie vor langfristigen Folgen der Schulschließungen.

Wiesinger – bekannt geworden als Autorin des Buchs Kulturkampf im Klassenzimmer. Wie der Islam die Schulen verändert – wurde nach ihrer Entlassung nach einem knapp einjährigen Intermezzo als Ombudsfrau für Wertefragen und Kulturfragen im Bildungsministerium Anfang März an eine Volksschule in Favoriten versetzt. Auf ihren Wunsch an eine "Brennpunktschule". Das, was sie im Corona-Halbjahr erlebt hat, lässt sie appellieren, sich dringend um diese Kinder und generell um offene Schulen zu kümmern – mit mehr als einem vagen Ampelplan, der alle zu "Versuchskaninchen" mache.

Zum Homeschooling sagt sie: "Wie soll man mit Erstklässlern via Online-Unterricht Buchstaben erarbeiten? Selbst wenn es noch so gute Lern-Apps gibt. Das hilft alles nichts, wenn die Kinder daheim keine Unterstützung, kein Datenguthaben und keinen Arbeitsplatz haben. In der Unterstufe geht es gut, wenn die Eltern helfen; wenn nicht, dann haben viele Kinder bis vier in der Früh Fortnite gespielt und halt bis zehn, elf Uhr geschlafen. Ein Tablet und hoffen, das Kind lernt, funktioniert nicht", sagt Wiesinger: "Kinder brauchen Interaktion. Es ,anklicken‘ oder ,stumm schalten‘ beim Distanzlernen ist für mich kein Ersatz für Unterricht."

Nach der Rückkehr zeigten viele Kinder echten Sprachverlust: "Ich unterscheide nicht zwischen Migrationshintergrund oder ohne. Die waren am Anfang wie Gespenster, haben kaum geredet. Ich kann überhaupt nicht mehr Deutsch, hat ein Zehnjähriger zu mir gesagt." Manche Kinder in schon vorher bekannt dysfunktionalen Familien seien im Lockdown "komplett verlorengegangen" erzählt Wiesinger: "Da war Stillstand. Gewalt. Und es gibt Mädchen in vierten NMS-Klassen, die sind in die Türkei verschwunden, die hatten die Schulpflicht erfüllt – und sind jetzt weg, weil niemand sich um sie gekümmert hat. Darum sind Schulpsychologen und Sozialarbeiter jetzt wichtiger denn je."

ZUR PERSON:

Susanne Wiesinger war 30 Jahre lang NMS-Lehrerin in Wien-Favoriten und bis 2018 FSG-Personalvertreterin, dann Ombudsfrau für Wertefragen und Kulturkonflikte, seit März Volksschullehrerin in Favoriten.

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Schule ist so viel mehr als "nur" Unterricht. Wenn Kinder zum Homeschooling gezwungen werden, dann verlieren sie mehr als "nur" den Ort, an dem sie Wissen erwerben sollen. Was Schule noch alles ist oder leistet, beschreibt das folgende Protokoll. Es stammt von einer Lehrerin, die anonym bleiben möchte, dem STANDARD aber namentlich und persönlich bekannt ist. Sie unterrichtet an einer Neuen Mittelschule (NMS) in Wien-Leopoldstadt.

Wenn die Schule ein besserer Ort ist als das Zuhause, dann ist ein Lockdown verheerend für die Kinder.
Foto: Getty Images/iStockphoto

"Manchmal ist Schule sogar ein Zufluchtsort"

"Die Kinder brauchen die Schule, besonders unsere Kids hier. Viele haben so prekäre Wohn- und Familienverhältnisse, dass es für sie fast unerträglich war, so lange zu Hause zu sein. Eine nochmalige Schulschließung würde die Zukunft vieler Kinder auf lange Sicht sehr negativ beeinflussen und sollte unbedingt vermieden werden.

Kurzfristig versanken im Lockdown alle im Chaos, aber danach konnte man bei ca. einem Drittel der Kinder einen adäquaten Lernerfolg feststellen, ein bis zwei Drittel schafften es aber kaum oder gingen ganz verloren. Das Aufsteigen mit Nicht genügend, noch dazu ohne Pflichtprüfung im Herbst, um den Stoff nachzuholen, hat bewirkt, dass SchülerInnen, denen ein halbes Jahr fehlt, in die nächste Klasse kommen und so jetzt zum Hemmschuh jener werden, die gearbeitet haben. Verpflichtende Kurse im Sommer für ,Corona-Verweigerer und Trotzdem-Aufsteiger‘ wären sinnvoll gewesen.

Schule ist kein Ort mit permanenter Aufgabensituation wie im Distance-Learning. Allein das Wort "distance" finde ich schon schlimm. Für mich und meine Kids zwischen 10 und 15 schließt ,distance‘ automatisch ,learning‘ aus. Schule muss Nähe vermitteln, ein ,Aufgehobensein‘, sonst funktioniert das Lernen nicht.

Schule ist ein Ort der persönlichen Beziehung, der Interaktion, man lernt sensibles Umgehen miteinander, aber auch, Regeln einzuhalten, Forderungen zu stellen und zu erfüllen. Man erfährt Vertrauen, Rücksichtnahme, soziales Lernen. Man hat Spaß, lernt aber auch, sich Ziele zu setzen und daran zu arbeiten, sie zu erreichen oder auch zu scheitern. Man lernt, was es heißt, einen persönlichen Erfolg einzufahren, man sieht das Ergebnis von harter Arbeit und dass sich Anstrengung lohnt, man lernt, mit Enttäuschungen umzugehen.

Es ist Platz für persönliche Gespräche, man hat das Gefühl, willkommen zu sein. Schule ist ein Ort der Sicherheit, ein wichtiger Treffpunkt, um sich auszutauschen und mit Freunden zusammen zu sein, ein Ort, an dem ich ,wichtig‘ bin und so wahrgenommen werde, wie ich bin. Manchmal ist Schule sogar ein ,Zufluchtsort‘, wenn es zu Hause gerade nicht so passt, und es ist ein Ort, an dem ich mein Selbstvertrauen stärke, mir Dinge aneigne und zumute, die ich vorher nicht angegangen wäre.

Wie soll all das durch Homeschooling oder Distance-Learning ersetzt werden?"

(Lisa Nimmervoll, 29.8.2020)