Ex-ÖBB-Chef und Ex-Kanzler Kern erinnert sich an eine ungeahnte "Eruption der Menschlichkeit".
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Warum Christian Kern Strache und Kickl für Gewinner hält

"Eine Eruption der Menschlichkeit": So nennt Christian Kern, was sich vor fünf Jahren auf heimischen Bahnhöfen abgespielt hat. Weil Deutschland die Aufnahme von in Ungarn gestrandeten Flüchtlingen zugesagt hatte, landeten zehntausende erst einmal in Österreich – und lösten, wie sich der Augenzeuge erinnert, "ergreifende Szenen" aus: "Gewöhnliche Bürger karrten Essen heran, Kinder verschenkten Plüschtiere – eine große Leistung der Zivilgesellschaft. Die staatlichen Stellen waren, wie nun in der Corona-Krise, völlig überfordert."

Als ÖBB-Chef war Kern damals Teil der Hilfsmaschinerie. Die Bundesbahn richtete Notherbergen in Büros ein, stellte Feldbetten in Bahnhöfen auf, fuhr Flüchtlinge ohne Fahrschein durchs Land. "Das war auch ein Akt der Vernunft", sagt Kern: "Die Menschen hatten begonnen, von der Grenze entlang der Gleise zu gehen. Das hätte den Bahnbetrieb in Kürze lahmgelegt."

Bis heute sieht der Ex-Generaldirektor in den Ereignissen "einen der besten Momente in unserer Geschichte, auch wenn manche das nun als Urkatastrophe brandmarken". Warum die Stimmung in der breiten Masse bald zugunsten jener, die letztere Deutung verbreiten, gekippt ist? Das erklärt er mit Szenen, die sich ein paar Wochen später abgespielt haben. Flüchtlingsscharen hatten sich, unter den Augen scheinbar ohnmächtiger Polizisten, über die steirische Grenze gedrängt. "Es entstand der Eindruck, dass der Staat die Kontrolle verloren hat", sagt Kern. "Die Medien zeigten nonstop Bilder von Massen, die Sprache hatte sich verändert: Statt von Menschen war nun von Strömen und geöffneten Schleusen die Rede."

In dem Moment hätten die Behörden kaum noch anders reagieren können, fügt er an, denn Gewalteinsätze gegen verzweifelte Menschen an der Grenze dürften keine Option sein. Das politische Versäumnis sei früher passiert. Im Irrglauben, "dass uns das alles nichts angeht", hätten Europas Staaten die anschwellende Krise in Syrien verdrängt: "Die Flüchtlinge sind nicht aus dem Nichts gekommen."

Mit Verzögerung bescherten die Vorfälle Kerns Karriere eine doppelte Wendung. Mit seiner schwankenden Asylpolitik hatte Werner Faymann den Kredit in der SPÖ verspielt, im Mai 2016 folgte ihm der ÖBB-Chef als Kanzler und Parteichef nach. Dass die Zeit an der Regierungsspitze bald wieder abgelaufen war, hängt für Kern ebenfalls entscheidend mit dem Reizthema zusammen. Analysen, wonach die SPÖ die Wahl 2017 – Stichwort Affäre Silberstein – eigenmächtig vergeigt habe, hält er für "Bullshit" und beruft sich auf die Einschätzung des Politologen Fritz Plasser, laut der die Sozialdemokraten angesichts der für Rechtsparteien formidablen Themenlage gar nicht hätten gewinnen können: "Es ging bei der Wahl fast nur um die Flüchtlingsfrage. Alles andere war powidl."

An Sebastian Kurz gescheitert

Auch er habe sich als Politiker beim Thema Nummer eins – "das sage ich selbstkritisch" – zu oft in defensiver Rückzugsrhetorik verloren. Wobei die ÖVP als Koalitionspartner aber auch keine ambitionierte Integrationspolitik zugelassen habe. So habe er mit dem damaligen Vizekanzler und ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner vereinbart gehabt, Christian Konrad und Ferry Maier, "die als Flüchtlingsbeauftragte Großes geleistet haben", zu Integrationsbeauftragten zu ernennen. Doch dann habe Mitterlehner einen Rückzieher gemacht, mit folgender Begründung: "Es tut mir leid, aber Sebastian Kurz und Wolfgang Sobotka wollen das nicht." Kerns Conclusio: "Manche Politiker bauen ihre ganze Karriere darauf auf, dieses Problem partout nicht zu lösen."

Nach wie vor prägten die Folgen der Flüchtlingskrise das gesellschaftliche Klima, befindet der Ex-Kanzler, der die Politik im Herbst 2018 wieder verlassen hat: Die FPÖ scheine in Selbstauflösung begriffen zu sein, "doch eigentlich haben die Straches und Kickls gewonnen: Was diese Leute propagiert haben, wurde breiter Konsens und von der ÖVP übernommen." Und wieder landet Kern bei einer Analogie zu Corona-Krise. Damals habe sich jener politische Stil eingeschlichen, der sich dieser Tage selbst diskreditiere. "Wenn nur mehr die PR zählt", verweist er auf diverse Regierungspannen, "setzt die Erosion der realpolitischen Fähigkeiten ein. (Gerald John, 31.8.2020)

Ex-Vizekanzler Mitterlehner blickt positiv auf das Engagement der Zivilgesellschaft zurück.
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Aktuelle Asylpolitik ist für Mitterlehner "zum Genieren"

Richtig eskaliert sei die Lage am 4. September, erinnert sich Reinhold Mitterlehner. Tausende Flüchtlinge traten an diesem Tag zu Fuß vom Budapester Keleti-Bahnhof den Weg Richtung Österreich an. "Die ungarischen Behörden konnten die katastrophalen humanitären Probleme am Bahnhof nicht mehr kontrollieren, und Viktor Orbán hat die Flüchtlinge ziehen lassen, um Druck auf Österreich und Deutschland auszuüben", sagt Mitterlehner, einst Vizekanzler der rot-schwarzen Regierung.

Er und Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) seien sich in einem Telefonat schnell einig gewesen, dass Österreich an der Grenze keine gewaltsamen Maßnahmen gegen die anmarschierenden Menschen unternehmen werde. Das war auch die Linie der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, die in die Entscheidung eingebunden war, zumal die meisten Flüchtlinge ohnehin nach Deutschland gelangen wollten. Österreichs Rolle bestand darin, den Transport von der ungarischen Grenze nach Deutschland zu organisieren.

Mitterlehner begab sich kurz darauf selbst zum burgenländischen Grenzübergang Nickelsdorf, um sich mit Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil ein Bild der Lage zu verschaffen: "Ich habe vor Ort gesehen, dass eine Anhaltung und Kontrolle der Ankömmlinge ein Riesenproblem dargestellt hätte." Die gesamte Tragweite der Ereignisse sei ihm dann bei der Rückfahrt nach Wien bewusst geworden, als allerorten Flüchtlinge über die Straßen liefen – eine "bedrückende Erfahrung". Dass ein fortwährendes Durchschleusen der Menschen nach Deutschland nicht die langfristige Lösung sein konnte, sei ihm angesichts der zahlenmäßigen Dimensionen erst da so richtig bewusst geworden.

Probleme im Management

Für besonders wichtig hält der Ex-ÖVP-Chef in der Rückschau das Engagement der Zivilgesellschaft und der Hilfsorganisationen, die etwa am Westbahnhof spontan Getränke und Kleidung vorbeibrachten. Überhaupt sei die Atmosphäre anfangs von Hilfsbereitschaft geprägt gewesen, "sogar die Kronen Zeitung hat das unterstützt". Der Umschwung sei allerdings umso rasanter gekommen. Fotos von verschmutzten Zügen oder weggeworfenen Spielsachen seien zur Stimmungsmache gegen Flüchtlinge in Szene gesetzt worden. Auch das Hickhack innerhalb der Koalition sowie zwischen Bund und Ländern über mögliche Standorte zusätzlicher Quartiere habe nicht gerade zur Entspannung beigetragen, konstatiert Mitterlehner.

Lob hat er ausgerechnet für das rot geführte Wien parat – heute die liebste Zielscheibe der Türkisen. Die Stadt habe sich ins Zeug gelegt, und Bürgermeister Michael Häupl sei im Wahlkampf für einen menschenwürdigen Umgang eingestanden.

Die Probleme im Management der Krise seien bald aber immer deutlicher geworden, insbesondere beim Andrang an der Südgrenze im Herbst. Das Vorgehen, die Flüchtlinge einfach von Spielfeld nach Bayern zu transportieren, habe Deutschland nicht mehr umstandslos akzeptieren wollen. Daher habe Österreich restriktiver werden müssen und eine Asyl-Obergrenze festgelegt. "Das war ein erstes richtiges Signal an das Schlepperwesen", argumentiert Mitterlehner.

Der Regierung sei es allerdings nicht gelungen, für ihre Politik ein Narrativ zu entwickeln, das von der Bevölkerung akzeptiert wurde. Nur der Außenminister habe frühzeitig erkannt, wie viel politisches Kapital sich aus dem Thema ziehen lasse – mit scharfer Kritik an Angela Merkel oder dem Schlagwort Balkanroute. "Sebastian Kurz ist zwar in allen Sitzungen der Koalition mit am Tisch gesessen, hat aber zugleich FPÖ-Rhetorik übernommen und so getan, als wäre er ein Außenstehender." Die Strategie ging auf. Kurz konnte sich durch seine enorm gestiegene Popularität ständige Querschüsse gegen Parteichef Mitterlehner leisten, der sich schließlich 2017 entnervt von allen Ämtern zurückzog. Ohne die Flüchtlingskrise wäre auch die Koalition nicht vorzeitig geplatzt, glaubt er.

Den politischen Rechtsruck in der ÖVP und in Österreich spüre man hingegen bis heute. Die Weigerung der jetzigen Regierung, auch nur einen einzigen minderjährigen Flüchtling aus den griechischen Lagern aufzunehmen, sei eine Folge davon. Diesen Kurs findet Mitterlehner "international zum Genieren". (Theo Anders, 31.8.2020)